4) Selbst ist die Tunte

Serie Eldorado

Von der Arbeitsmoral im Coco Liebe, vom Regalbau, dem Tuntenhaus, von Futur Zwei und wie man eine Bewegung startet

Etica
© Vreni Spieser. 5. Juni 2012 in Rio de Janeiro.

Mein Milchkaffee hat ein Herzchen im Schaum. Diesen Eintrag schreibe draußen vor dem Coco Liebe. Ich musste raus, weil sich drinnen die Hitze staut und meine Arbeitsmoral schwankt wie der Sommer 2017. Meine Ruhe beim Café wird allerdings gerade gestört durch einen wild gewordenen Autofahrer, der zwei Radfahrern „Schwuchteln“ hinterher bellt. Das ist Neukölln, hier regieren die Dreckschleudern.

Coco im Tutu

Der Name des Cafés lässt mich an Coco denken, nicht Chanel, sondern eine Transsexuelle. Coco, damals noch ein Junge, ging in dieselbe Schule wie ich, öfter mal im Tutu. Das war Mitte 80er, in einer militärisch geprägten Kleinstadt am Fuße der Alpen. Coco machte den Prozess ihrer Geschlechtsumwandlung 1991 durch einen Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens öffentlich. Sieben Jahre später nahm sie sich das Leben.

Das protestantische schlechte Gewissen

„Ética profissional“ heißt Arbeitsmoral auf Portugiesisch.
Ich prokrastiniere gerade. Doch das protestantische schlechte Gewissen mache ich wett: Ich baue meinen Büchern ein Regal. Das gefällt ihnen.

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Selbst ist die Tunte

Rattenchor im Tuntenhaus

Am Wochenende war Hoffest im Tuntenhaus an der Kastanienallee. Da treten jeweils in einer grandiosen Show die herrlichsten Vogelscheuchen, tschuldigung Trümmertunten, ehm, Drag Queens auf. Und der unverwüstlich wüste Rattenchor gibt politische Lieder zum Besten. Immer schön neben dem Ton wird aus „Dschingh-Dschingh-Dschinghis-Khan“ „E-E-Erdoğan“. Anstatt „Life Is Life“ singen die sexuell Devianten „Stumpf ist Trump-f“.

Nach der Show gab’s Disco: „One way ticket to the moon“, wir sangen mit.

Die rosige Zukunft

Damals als die Menschheit auf den Mond flog und an ewigen Fortschritt glaubte, gab es noch so etwas wie eine rosige Zukunft. Wir müssen wieder zukunftsfähig werden, schreibt Harald Welzer in seinem inspirierenden Buch Selbst Denken. Den Möglichkeitssinn schärft Welzer auch mit seiner Stiftung Futurzwei, die u.a. den Zukunftsalmanach 2017/18 herausgebracht hat. Hier werden zahlreiche Projekte vorgestellt, die ihren Teil dazu beitragen, die Welt ein Stückchen besser zu machen. Zusammen mit der taz erscheint außerdem seit Juni alle drei Monate das Magazin für Zukunft und Politik – Futurzwei.
Im Artikel „Bewegung aus dem Nichts“ von Srdja Popovic, geschäftsführender Direktor der Revolutionsagentur Canvas, begegnet mir Jean Baudrillard wieder (Siehe Eintrag: Mit Baudrillard im Disneyland). Popovic stellt ein Fünfschritte-Programm vor, um die Realität zu verändern (nachfolgend Zitate daraus):

  1. Glauben Sie an sich selbst
    „Egal ob Sie mit Angst, Unterdrückung oder schlichtweg Gleichgültigkeit konfrontiert sind, es ist immer möglich, Menschen aufzurütteln, damit sie sich für eine Sache einsetzen.“
    “Wenn Sie keine Verantwortung übernehmen, wenn Sie nicht gegen die Dinge kämpfen, die Sie stören, wenn Sie nicht an sich selbst glauben – wer soll es dann tun?“
    Aber es gilt auch vorsichtig zu sein: Es „darf niemand, der Veränderungen herbeiführen will, vergessen, dass wir zwar in einer höchst globalisierten und vernetzten Welt, zugleich aber auch im Simulacrum der Wirklichkeit leben, wie Jean Baudrillard, es genannt hat, also in einem trügerischen Bild.“
  1. Seien Sie einen Tag lang Harry Potter – Bestimmten Sie,
    welchen Wandel Sie wollen

    „Eine Revolution beginnt nicht mit einem Slogan, sondern mit einer eindeutigen Vision des Wandels, den Sie erleben wollen.“
  1. Verlagern Sie das Spektrum ihrer Verbündeten
    „Um erfolgreich Wandel herbeizuführen, müssen Sie Ihre potenziellen verbündeten finden, diese einbinden und gemeinsame Nenner mit ihnen finden.“
  1. Erkennen Sie die Säulen der Macht
    Dies können lokale Gruppen sein, die „Polizei, Medien, Bildungssysteme, Regierungsbehörden oder andere Organisationen“.
    „Druck auf diese Institutionen oder ‚Säulen der Unterstützung’ auszuüben, damit diese Ihre Vision zu ihrem Standpunkt machen, ist eine der Schlüsselstrategien erfolgreicher Bewegungen, wie groß oder klein sie auch sein mag.
  2. Machen Sie Ihre Bewegung witzig und cool
    „Obwohl die Initiatoren gewaltloser Bewegungen üblicherweise Gandhi oder Martin Luther King Jr. als Vorbilder dienen, waren diese bei all ihren vielen Tugenden einfach nicht so unterhaltsam. Wenn Sie es im Internetzeitalter darauf anlegen, eine Massenbewegung in kürzester Zeit anschwellen zu lassen, könnte sich Humor als Ihre Hauptstrategie erweisen. Außerdem hassen die Mächtigen im Großen und Ganzen Scherze.“

Bevor ich meinen Latte und Schokokuchen zahle, lege ich einem Motz-Verkäufer ein bisschen Kleingeld in die Hand. Möge mir mein Karma huldigen.

Nachtrag: Sandra Knecht (Chnächt) hat heute (4.8.) auf facebook ein Interview mit Coco geposted inkl. schönem Foto. In Erinnerung an Coco.

9 Kommentare

  1. Hey Urs,
    spüre und schmecke gerade die Atmosphäre und die Berliner Luft, in der du sitzt und den launischen Sommer mitsamt seinen übellaunigen Schimpfwörtern aud die vorbeufahrende Räder und zum Teufel schickst, im Latte untergehen und in den Schokokuchen eindrücken lässt, während dein Kharma sich an den bunten und vielfältigen Themen vorbeimogelt, weil es heute mal völlig ohne Vorwanung ins Sommerloch gefallen ist und erst morgen wieder die Welt retten will …
    Was für eine Café der Möglichkeiten, alles drin und dran und drunter und drüber geht es hier, mehr davon lieber Urs, bitte mehr genau davom,
    Mia, die gerade ganz begeistert ist und sich erst einmal einen Kaffee kocht! :-)

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  2. Lieber Urs, liebe Mia,
    hänge gerade völlig erschöpft von 2 Tagen Renovierung un meiner Wohnung vor dem Pc rum. Nein, ich hab es nicht selbst getan, ich hab es ertragen (mehr dazu am nächsten Samstag auf meinem Blog) und geräumt und gestaubsaugt und gewischt. Nun sind die Handwerker raus, das Chaos noch da, ich habe eine Staublunge. Und was seh ich da bei Dir, lieber Urs, ein selbstgezimmertes Regal. Das ist genial! Nein , heute abend rette ich keine Welt mehr. Mein Karma hat Pause, morgen staube ich es ab und lege mich auch mal wieder mit den Ungerechtigkeiten der Welt an, oder setz mich mal einfach nur ins Cafe.
    Gute Nacht zusammen
    Anne

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  3. Lieber Urs,

    endlich – ein Plan, um Realitäten zu verändern… Ich fange gleich damit an, besonders der Prt, einen Tag wie Harry Potter zu sein und den Humor zu stärken gefällt mir. Ja , wenn wir begreifen, dass Wirklichkeiten Bilder in unserem Kopf sind, wird das Leben leichter..

    Liebe Grüße in die Stadt, die niemals schläft …

    Hedda

    Dazu noch ein Paar Worte von Rose Ausländer

    Die Muschelblume

    Ich fische Muscheln aus dem Meer
    und baue eine Blume, ganz Gehör.

    Ich leg mich in ihr Kelchgeweide
    und pflanz sie in die Schollenseide

    im Garten meines Herrn die Jahre fließen.
    Als Muschelblume lieg ich ihm zu Füßen.

    Was tut`s, daß er`s nicht merkt? Doch staunt er sehr:
    IN MEINEM GARTEN RAUSCHT DAS MEER!

    ( R. Ausländer)

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  4. Lieber Urs,

    ich kann das Straßengeschnatter und Geknatter an deinem Neuköllner Tischchen vor dem Coco Liebe hören – und sehe dich mit deinen Zukunftsvisionen auf der Kaffeeschaumwolke schweben.

    Am 5-Punkte-Programm zur Weltrevolution gefällt mir am besten der Aufruf zum Humor. Den tragen deine Beiträge ja immer so erfrischend in sich.

    Mit dem schrägen Rattenchor singen und Schokoladenkuchen ohne Arbeitsmoral genießen – da hätte ich auch Freude dran.

    Dein selbstgebautes Regel finde ich super – genauso wie die Tür öffnen die Bücher neue Räume.

    Herzliche Grüße
    Ulrike

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