Beautiful Boyz

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All those beautiful boys
Pimps and queens and criminal queers
All those beautiful boys
Tattoos of ships and tattoos of tears

…singen CocoRosie, Hohepriesterinnen des Queer Folk gemeinsam mit Anthony (heute Anohni). Höre ich den Song, wähne mich in einem Hafen, unter zwielichtigen Gestalten, sehe Jean Genets Querelle in Fassbinders Verfilmung.

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avenidas y flores

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flores y mujeres

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avenidas y mujeres

avenidas y flores y mujeres y
un admirador

…steht auf der Hauswand der Alice Salomon Hochschule in Berlin Hellersdorf, wo ich derzeit Masterstudent in Biografischem und Kreativem Schreiben bin.
Lese ich das Gedicht des Alice Salomon Poetik-Preisträgers Eugen Gomringer sehe ich mich in Buenos Aires eine Allee entlang promenieren. Als Schwuler bewundere ich zwar in erster Linie die Männer, die mir entgegenkommen, aber die Frauen, ohlala, die Frauen sind nicht zu übersehen. Wie vielerorts im Süden sind sie nicht nur elegant, sondern geradezu offensiv sexy. Selbst im hohen Alter verstehen die Frauen es, sich einen Touch Diva zu geben. Sie sind weit vom biederen beigen Unisex-Look unserer Rentner*innen entfernt. Ich spaziere eine Avenida entlang, und genieße die Blicke, die man sich hier zuwirft. Niemand schaut zur Seite, niemand zu Boden.

Flanieren, besonders an einem Sonntag, gehört zum Stadtleben. Der Flaneur (ebenso die Flaneurin) beobachtet nicht nur, er bewundert und will bewundert werden. Er putzt sich heraus und schlendert in Gesellschaft seiner Mitmenschen durch die Straßen. Vielleicht setzt er sich auf eine Bank und schaut dem bunten Treiben zu. Vielleicht fällt ihm die eine oder andere Frau auf. Vielleicht ist er Single und vielleicht wagt er sich sogar, eine Passantin anzusprechen. Vielleicht setzt sie sich zu ihm. Vielleicht äussert der Flaneur, ein höflicher Mensch, ein Kompliment. Vielleicht schmeichelt dies der Frau. Sie sprechen, zuerst zögerlich verlegen, sie tasten sich ab, gewinnen mit steigendem Interesse Vertrauen und flirten immer offensiver. Sie genießen das Kribbeln, den Möglichkeitsraum, der sich öffnet. Längst schon beschnuppern sie sich, hoffen, dieser Moment möge nicht so schnell enden.  Vielleicht spazieren sie gemeinsam weiter, auf der Suche nach einem Kaffeehaus. Vielleicht bleiben sie bis zur Cocktailstunde, vielleicht sind sie irgendwann beschwipst, vielleicht begleitet er sie vor ihre Haustüre und hoffentlich bittet sie ihn nach oben.

Zensurgelüste

In einem offenen Brief vom 12. April 2016 legen Studentinnenª dem Akademischen Senat der Hochschule nahe, das Gedicht zu entfernen, weil sie sich durch die Zeilen von Gomringer „zu bewunderungswürdigen Objekten im öffentlichen Raum“ herabgesetzt fühlen (ª im Brief ist von Unterzeichnerinnen die Rede). Die Hochschulleitung hat nun eine Ausschreibung zur Neugestaltung der Südfassade lanciert, die bis zum 15. Oktober läuft.

Ich frage mich: Was für eine Welt ist das, in der nicht mehr zwischen einem plumpen H&M-Plakat und einem Gedicht unterschieden wird? In der Kunst nicht mehr bewundern darf und auch nicht mehr polarisieren? Was für eine fade, gleichgeschaltete Welt erwartet uns, wenn Kunst demokratisch gewählt wird?
Wie wollen wir uns in einer Welt begegnen, in der ich meiner Bewunderung nicht mehr Ausdruck verleihen darf, in der jede meiner Äußerungen neutralisiert werden muss, weil alles was ich sage potenziell jemanden verletzen könnte?
Es ist eine aseptische Welt. Eine Welt wo sich die Menschen abdrehen, wenn sie einander auf der Straße kreuzen, eine Welt hinter dunklen Sonnenbrillen, unisex und völliger Entfremdung. Eine Welt in der sich die Menschen nur noch digital unterhalten und online daten, um körperlichen Bedürfnissen nachzugehen. Eine Welt in der man ausschließlich zu sehen kriegt, was man sehen will, facebook-Chronik sei Dank.

Dies alles gebe ich dem Akademischen Senat zu bedenken, der offenbar gewillt ist, den Zensurgelüsten einiger Studentinnen entgegen zu kommen.
Zensuransinnen über die Kunstfreiheit zu stellen, ist ein falsches Zeichen. Besonders wenn bereits die Äusserung von Bewunderung (von avenidas y flores y mujeres) als diskriminierend bewertet wird.
Und ich bitte die Frauen, die den offenen Brief unterzeichnet haben, ihre Haltung kritisch zu prüfen. Ich fordere sie auf, unterscheiden zu lernen zwischen Bewunderung und plumper Anmache. Das erwartet ihr von Männern auch. Oder?

Zur Ergänzung: Der Rektor, Uwe Bettig, steht der Entfernung des Gedichts kritisch gegenüber. Mehr hierzu u.a. in diesem faz-Artikel.

Ergänzung vom 24. Januar 2018: Das Gedicht soll im Laufe 2018 ersetzt werden durch eines von Barbara Köhler, ASH-Poetikpreisträgerin 2017. Hier zum Artikel des Tagesanzeigers.

12 Kommentare

  1. Lieber Urs,

    Du sprichst mir aus meiner Seele. Ich lese das Gedicht als Hymne an die Frau und die Schönheiten dieser Welt. Bewunderung ist ein durch und durch positiv besetztes Wort. Kunst sollte nicht von Ideologie verdrängt werden, genauso wenig wie Ideologie die Kunst beherrschen sollte.

    Mit besten Gute Nacht Grüßen

    Ute

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    • Liebe Ute, lieben Dank für’s rebloggen und Deinen Kommentar. Schön, dass Du erwähnst, dass Bewunderung positiv besetzt ist. Das ins Gegenteil zu verkehren braucht doch sehr viel Drehvermögen…
      Herzlich, Urs

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  2. Lieber Urs,
    Gut, dass Du dieser Debatte einen Post auf Deinem Blog gewidmet hast. Ich schwanke immer noch zwischen ungläubigem Staunen und Empörung über das Ansinnen dieser jungen Frauen. Warum ertragen sie nicht die Vorstellung von potentieller Bewunderung dafür, dass sie eine schöne Frau sind? Ja ich verstehe schon die Angst, dass der nächste Schritt sexuelle Übergriffigkeit sein könnte. Aber so viele Konjunktive…….. Ein bisschen mehr Gelassenheit wäre vielleicht nicht schlecht. Und einfach ein Gedicht über schöne Jungs nebendran an die Fassade schreiben.
    Liebe Grüße
    Anne

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  3. Lieber Urs,

    das Foto mit dem Zensur-Streifen auf deinen Augen ist herrlich – und bringt deine schlüssige Argumentation bestens in bildlichen Ausdruck.

    Ich stimme dir zu: Bei Kunst (ob in Wort, Bild oder anderer Ausdrucksform) sollte es immer die Möglichkeit vieler Blickwinkel geben – den der Künstlerin / des Künstlers und all jene Blickwinkel der einzelnen Betrachter*in. Eine Gleichmacherei und Zensur tötet die Kunst (und auch die Gesellschaft).

    Danke für diesen Beitrag – und dann spielt sich die Tragödie auch noch an unserer eigenen Hochschule ab. Bin gespannt, wie die Fassade der ASH nach der „Ent-Diskriminierung“ aussehen wird.

    Herzliche Grüße
    Ulrike

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    • Liebe Ulrike
      Danke auch Dir für Deine bestärkenden Worte. Immerhin können wir abstimmen, obwohl sich mir jedes Haar sträubt, wenn über Kunst (an einem privaten Haus) abgestimmt wird.
      Herzlich, Urs

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  4. Lieber Urs,

    Danke für diesen deinen Post, der nachdenklich stimmt, aber auf das Augenzwinkern nicht verzichtet.
    Ich kann es mal wieder nicht fassen und wundere mich, was nur los ist in dieser Welt, in der das Feiern der Schönheit und Lebendigkeit, in der Bewunderung gleichgesetzt wird mit Herabwürdigung… Manchmal ist ein Kompliment einfach nur ein Kompliment!
    Und darüber hinaus, darf Kunst jetzt nicht mehr streitbar sein? Gendern wir jetzt sämtliche literarische Werke? Ziehen wir Aktskulpturen sittlich an? Darf man heutzutage echt niemanden mehr pikieren? Als nächstes kommen uns noch die Debatten abhanden & dann wird’s wirklich zum Gähnen langweilig… ;)
    Zum Glück bieten deine Posts Abhilfe!
    lg. mo…

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    • Liebe Mo, Dir lieben Dank für die wichtigen Ergänzungen. Wie sagte man früher? Allen Menschen Recht getan ist eine Kunst, die niemand kann? Tatsächlich landeten wir beim weissen Blatt Papier müssten wir auf alle möglichen Sensibilitäten achten. Oder jedem literarischen Werk wäre eine zehnseitige Trigger-Warnung vorzuschieben und Kunst dürfte sowieso nur noch hinter Vorhängen gezeigt werden.
      Herzlich, Urs

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