Eng, düster und bang?

Dating-App-begleitet aufstehen, ploddern, Weichkäse kaufen und im Kino von Lucky angelächelt werden

Buddha
es war nicht immer so eng

Eigentlich freust Du Dich über die länger werdenden Tage, jetzt, wo Sommerzeit ist.
Eigentlich freust Du Dich auf den wärmenden Frühling, auf die Blüten und das morgendliche Vogelgezwitscher.
Eigentlich wolltest Du tanzen, dieses Wochenende, ins Feld gehen für ein ästhetisches Forschungsprojekt, Dich Menschen nahe fühlen, mindestens ihren Körpern.
Doch das geht nicht, weil deine Backe zahnoperationsbedingt geschwollen ist und Fäden noch die Nahrungsaufnahme erschweren.

Bluescreen-Rhythmus

Du erwachst um 6h30, um 7h musst Du sowieso die nächste Antibiotikapille und Schmerztablette schlucken. Dein Tag ist in 8-Stunden-Rhythmen eingeteilt, nicht in 120bpm.

Weil Du das Handy, das Dir die frühe Uhrzeit anzeigte, schon in der Hand hältst, streichst Du Dich durch Whatsapp, Instagram, Twitter, Facebook und die drei Dating-Apps Grindr, Scruff und Planetromeo, die Dir Männer in Deiner Umgebung schmackhaft macht, 20m, 315m, 4,5km entfernt, zumeist ihren nackten Oberkörper anbietend.

Guten Morgen, digitale Nachbarn.

Doch die auf dem Bluescreen präsentierten Datingwilligen werfen Dich nur auf Dein eigenes Singledasein zurück, elendes, gerade. Seit Tagen lungerst Du zuhause rum, eingekapselt. Kein Plan fürs Wochenende und dieses Teenager-Bewusstwerden, dass das eine Katastrophe ist.

Weil Dein Darm rumpelt, musst Du aufstehen. Der antibiotische Matsch, der in die Schüssel ploddert, fühlt sich an, als hätte er sich bereits im Kopf verdünnt. Im Spiegel Dein unrasiertes unleidiges Antlitz.

Du versuchst Dich auf Deine Arbeit zu konzentrieren, Du betreibst gerade ästhetische Forschung im Bereich Tanzen und Schreiben.
Du erinnerst Dich an das Buch, das Du gestern endlich gelesen hast, Rave, von Rainald Goetz. Da steht: „Eine Beobachtung kam vorbei und war schon wieder weg.“
Da steht auch: „Ein Denken, das alles nur irgendwie Denkbare schon erledigt hat und jedem dadurch alle Freiheit gibt und einen so einfach komplett in Ruhe läßt. Fertig.“

Schön, denkst Du, aber was ist, wenn einem trotzdem eng, düster und bang ist, wie Blixa Bargeld aus Deinem Bluetooth-Lautsprecher singt?

Was, wenn die Relativierungsmaschine nicht anspringen will und stotternd absäuft wie ein rostiger Rasenmäher?

Weichkäse vom Wochenmarkt

Du versuchst es mit Alltagsroutine, gehst zum Wochenmarkt, kaufst am Käsestand Weichkäse (wir erinnern uns: die Zähne) und am Blumenstand Tulpen. Doch auch der Käse schmeckt nach Mundspülung und die Tulpen, ja, die Tulpen bekämst Du lieber von einem Lover überreicht. Bevor Du in noch tranigeres Selbstmitleid hineinwatest, erinnerst Du Dich des reichhaltigen Kulturangebots Berlins. Da sind diverse Kinos in nächster Nähe. Um 14h läuft Lucky im Rollberg.

Vom ersten bis zum letzten Bild umwogt Dich ein Gefühl von Zärtlichkeit. Harry Dean Stanton alias Lucky ist uralt, er ist so fragil, dass man fürchtet, es haue ihn gleich um. Das tut es auch. Lucky kann es nicht fassen. Noch weniger, dass er irgendwann, wahrscheinlich bald, sterben muss. Was tut er darauf? Lächeln. Und zwar direkt in die Kamera. Dieses gelebte Gesicht knappe eineinhalb Stunden sehen zu dürfen, ist ein Geschenk.
Wie liebevoll die anderen Figuren gezeichnet sind, wie Lucky mit einer besorgten Serviererin aus dem Diner, wo er täglich Kaffee trinkt und Kreuzworträtsel löst, einen Joint raucht. Wie David Lynch als Typ, dessen Schildkröte namens Roosevelt das Weite gesucht hat, den Tränen nahe sagt, es gäbe Dinge im Universum, die seien größer als wir, eine Schildkröte sei so was. Wie brüchig Lucky an einer Fiesta von Mariachis begleitet Volver singt. Wie er eines Nachts erwacht, zu Johnny Cashs herzzerreißendem Song I See A Darkness, man ihm die Todesangst ansieht und wie er später im Film lächelt. Einfach lächelt.

Dieses Lächeln hat Dich angesteckt. Draußen scheint inzwischen die Sonne und sie kommt Dir nicht wie Hohngelächter auf Dein Elend mehr vor.

Du wandelst in sengender Hitze in Angkor Wat zwischen tausendfachem Lächeln Buddhas.

Zu Hause singt Blixa Morgen wie ich: „Zwischen Himmel und Erde streckt eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, wie ich.

homescreen
Seit Jahren mein Homescreen (Abfotografierte Postkarte, die ein Still aus der Videoarbeit „Gestures, Splits and Annulations“ von Alicia Frankovich zeigt.)

Zitate aus Rave: S.31 und S.267 in: Goetz, Rainald (2001), Suhrkamp, Frankfurt a.M.

10 Kommentare

  1. Hat dies auf Mia.Nachtschreiberin. rebloggt und kommentierte:
    Lieber Urs,
    ich lese deine Blogbeiträge sehr gerne, sprachlich genial, ehrlich, mitnehmend, nachdenklich und eine Perspektive auf die Welt, die meine weitet …
    Ich habe mir keinen Weichkäse geholt, dafür aber Tulpen, die gelb-roten; im Kino war ich nicht, dafür zum sSchreiben auf der Terrasse des Literaturhotels, bis es zu kalt wurde, ein Moment Frühling, schreiben wollte ich über Roland, geschrieben habe ich über seine Mutter, abends habe ich den letzten Teil von Bella Block gesehen und mich erschreckt, wie sehr eine Frau auf ihr Alter und ihre Einsamkeit reduziert wird, wenn ihr Job nicht dazukommt, der sie für andere nach außen hin sichtbar definiert …
    Und heute? Ich beginne meinen Urlaub zu genießen, mein Blick fällt auf die Tulpen und dann lese ich deinen Beitrag,
    danke dafür,
    Mia

    Gefällt 2 Personen

  2. Lieber Urs,
    wie gesagt, mit der Kiku-Mucke kannst du mich nicht hinterm Ofen vorlocken, wohl aber mit dem Film, der Brüchigkeit, mit Johnny Cash sowieso. Fehlt nur noch, dass dein Lächeln mich ansteckt (fühle mich weiterhin von der Sonne verhöhnt). Also schau ich nach, ob und wo Lucky hier in dieser Einöde läuft, keine Chance, Kaiserslautern nächstes WE? Und so harre ich weiter und hoffe auf weitere Posts, die mir wenigstens drei Minuten lang das Lächeln zaubern.
    Möge die Zahnfee dir hold sein und auch den Blues vertreiben! LG Amy

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  3. Lieber Urs,

    vielen Dank für Deinen Filmtipp. Ich habe auch einen für Dich: die Spur (https://www.youtube.com/watch?v=QQHD9awysVg). Den Film empfehle ich Dir, wenn Du gesundheitlich und mental wieder ganz ok bist. Er ist nämlich ein bißchen düster, aber der beste Film, den ich bis jetzt in diesem Jahr gesehen habe.
    Wünsche Dir gute Besserung, wenn Du Deine Zahnprobleme losgeworden bist, wird Dich der Frühling auch optimistisch stimmen! Wir räumen heute in Vorfreude schon mal die Gartenmöbel auf die Terrasse…
    In den Berliner Gärten blühen doch auch schon Krokusse und Narzissen? Diese Blütenfarben stimmen optimistisch!

    Beste Grüße

    Ute (Susi ist immer noch auf Abstinenz…)

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  4. Lieber Urs,

    „Lucky“ möchte ich mir auch demnächst anschauen – letztens kam „Paris, Texas“ im TV (zu Ehren von Harry Dean Stanton – ich mag den Film und den Darsteller – auch wenn er dort fast nie lächelt).

    Ich wünsche dir Blumen, Sonne und viel Lächeln – bald tanzt du bestimmt auch wieder.

    Herzliche Grüße
    Ulrike

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  5. Hallo Urs,

    ich leide mit dir, zwischen den Zeilen und mit jeder Silbe – der Kinofilm als Erlösung, wie gut ich das nachvollziehen kann. Ich hoffe, die Zähne sind inzwischen schmerzbefreit und die Tulpen noch immer nicht verwelkt in deiner Vase….

    all the best

    Hedda

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