I’ll be your mirror

Manchmal will die Flucht ins Schöngeistige nicht gelingen, weil der Geist sich im Spiegel betrachtet und was er sieht, ist Zerfall. Er findet Ruinen durchaus charmant, aber sein Gesicht sähe er lieber restauriert wie das Berliner Schloss.

Frisörbesuche werden zur Stimmungsfalle, er muss dringend einen Salon mit angemessen schummrigem Licht finden. Diese billigen, hell beleuchteten Schneidefabriken gehen gar nicht mehr. Auch nur eine Sekunde die Gruben im Gesicht betrachten müssen, kann an manchen Tagen heftige Trauer um sein schwindendes Leben auslösen, diese eingefallenen Wangen, die höchstens eine Marlene Dietrich erfreuten, das sich lichtende Haupthaar. Noch ist die Dichte bei über fünf Härchen pro Quadratzentimeter, aber nicht mehr lange. Wie lange? Wie lange hat er noch?
Wann hat er zum Totenkopf gegriffen, um Hamlet gleich, das Sein zu befragen?

Spiegel. Frühmorgens mit verklebten Augen ohne Brille halbwegs erträglich. Beim Sport, im Freihantelbereich, seine Erscheinung in wandfüllenden Spiegeln gnadenlos reflektiert, von vorne, von der Seite, von hinten. Wie war das mit mens sana in corpore sano? Wie soll sich der Geist je in einem Körper wohl fühlen, der vor seinen Augen zerbröselt, in qualvoller, das restliche Leben dauernder Zeitlupe?

Nein, noch ist nicht Zeit abzutreten, noch ist die Katastrophe nicht eingetreten, noch ist das Alter, der Tod, eine bloße Drohung, allerdings eine, deren Infanterie am Horizont Stellung bezieht.
Noch finden ihn Manche sexy, findet er sich manchmal gar selbst attraktiv, besonders bei schmeichelhafter Beleuchtung und ein paar Bieren in der Lampe.

Daddy cool?

Für sein derzeitiges Alter gäbe es den Stereotypen des Daddies und nicht wenige blutjunge Männer, die auf Ältere stehen. Doch was will er schon von der Jugend außer vielleicht deren Fitness? Zunehmend kann er sich vampiresker Gedanken nicht erwehren. Ran an die frischen Zellen! Dabei denkt er an Julie Delpy, die im Film „Die Gräfin“ (bei dem sie auch Regie führte) Elisabeth Báthory spielt, die grausam das Blut von Jungfrauen anzapfte, zwecks Verjüngung.

Und er erinnert sich an Bangkok. Erstens weil ihm dort das Alter einen wesentlich höheren Stellenwert zu haben schien als die Jugend. Zweitens, weil er in einem Club, diesen Jüngling, ein kleiner Adonis, der sich auf der Bühne tanzend zur Schau stellte und ihm immer wieder eindeutig zweideutige Blicke zugeworfen hatte, in der Raucherecke ansprach:
Listen, I’m more than double your age. Why do you flirt with me?
Because I love imperfection.

Das war es also. Eine Generation, die HD-ready mit Photoshop aufwächst, fühlt sich von durchs Leben bearbeiteten Gesichtern angezogen und sucht darin womöglich Authentizität.

Die Rillen

Damals, als er noch ein spiegelglattes Gesicht hatte, entdeckte er The Velvet Underground. Und weil die Rillen einer Schallplatte so analog sind wie Falten im Gesicht, legt er dieses Album auf den Plattenteller, das mit der Warhol-Banane.

Auf das Leben!

I’ll be your mirror
Reflect what you are, in case you don’t know
I’ll be the wind, the rain and the sunset
The light on your door to show that you’re home

When you think the night has seen your mind
That inside you’re twisted and unkind
Let me stand to show that you are blind
Please put down your hands
Cause I see you

I find it hard to believe you don’t know
The beauty that you are
But if you don’t let me be your eyes
A hand in your darkness, so you won’t be afraid

When you think the night has seen your mind
That inside you’re twisted and unkind
Let me stand to show that you are blind
Please put down your hands
Cause I see you

I’ll be your mirror
(The Velvet Underground & Nico)

 

12 Kommentare

  1. Lieber Urs,
    da schwingt wohl noch unser Clärchen-Gespräch mit? Obwohl, das Sehnen während des Vergehens schmerzt ja dauerhaft. Im Nachgang zum Samstag ist mir aufgefallen, dass ich etwas hinterhertrauere, dass ich nie hatte (aka Schönheit), und dass ich mich nie von eine gewissen Normung befreit habe, obwohl wir uns doch alle zu den „inneren Werten“ bekennen. Da rufe ich dir doch mal mit Sokrates zu: DU BIST SCHÖN! Wer so schöne Dinge sagt wie du, der kann nicht hässlich sein.
    Hugs!

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    • Liebe Amy
      Ach, diesen sokratischen Zuruf nehme ich doch gerne an und hoffe, dass es ein Zauberspruch ist!
      Herzlich, Urs
      PS: Das es ab einem bestimmten Alter gar nicht mehr um ‚Schönheit‘ geht, ist eigentlich entspannend, oder? Wenn das Alter nur nicht mit… na, das steht ja oben.

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  2. Lieber Urs,
    da, ist er, der eigene knallharte Blick in den Spiegel … Spannend ab Dämmerlicht und frustrierend ab Tageslicht und Friseur- und Fitnessspiegel … Und, wenn ich dich anschaue, sehe ich dein Alter nicht, da sehe ich den kreativen und verspielten junger Urs, noch mehr, wenn er tanzt …
    Wir schreiben und lachen uns jung, denn das sind wir, solange wir uns als jung ansehen …
    Ganz liebe Grüße,
    Mia
    P.S: Meine Zerrung rechts ist auch nicht altersbedingt, nein, ich habe zu viel beim Fußball mitgespielt … und dann die letzte Stufe nicht gesehen, weil sie so plötzlich da war … Nur Stress, kein Alter …:-)

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    • Liebe Mia
      Siehst Du, so jung, dass Du noch Fußball spielst und Dich verletzt wie ein Profi (hast Du Dich auch dramatisch gewälzt wie die Weicheier auf dem Feld?).
      Rasche Heilung, herzlich, Urs

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  3. Ach, lieber Urs, vielen Dank für diesen Text! Altern ist schon ’ne ziemliche Zumutung, ein langsamer und schmerzhafter Abschied. Aber ich denke, wir sollten uns davon das Feiern nicht verderben lassen. :) Deine Worte und auch der Songtext haben mich außerdem an etwas Wichtiges erinnert: Ich selbst habe mich nie von „klassischer“ Schönheit angezogen gefühlt und Attraktivität ist nicht gleich Schönheit. So long, genieße den Sommer und das Leben! <3

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    • Liebe Sabine,
      Das Motto „Solange es geht“ wird uns die nächsten Jahre tragen!
      Ich freue mich darüber, nicht alleine zu sein, beim Blick in den Spiegel.
      Herzlich, Urs

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  4. Ihr Lieben,
    was jammert Ihr denn da so rum? Ihr seid noch alle so jung. Ich sag Euch eins:Mit 50 Jahren, 55 Jahren und auch mit 60 Jahren, da steht man noch mitten im Leben. Aber die 65, der ich nun in 11 Tagen ins Antlitz blicken werde, ist nicht witzig. Da geht es heftig auf die 70 zu und das Thema Krankheit, Altern und Sterben nimmt plötzlich breiteren Raum ein. Also dreht Euch ab vom Spiegel und trauert nicht dem Vergangenen nach, schaut in die Zukunft, da habt Ihr nämlich noch einen guten Weg vor Euch. Geht ihn bewußt und mit Vergnügen.
    Liebe Grüße
    Anne

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    • Liebe Anne
      Ich wusste ganz genau, dass Du das Schreiben wirst. Es hörte eben nie auf, das noch älter werden… Aber auch für Dich gilt: Die 65 ist die neue 55!
      Herzlich, Urs

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      • Lieber Urs,
        ich wusste, dass Du genau das erwartet hast und habe deshalb auch erst mal gezögert, es genauso zu formulieren. Aber so isses nun einfach mal. Ja an dieses „65 ist die neu 55“ mag ich mich schon klammern und Silver-Ager klingt ja auch ganz kommod… ich versuche das Älter Werden in Würde hinzunehmen.
        Liebe Grüße
        Anne

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  5. Lieber Urs,

    auch wenn die liebe Anne W. schimpft und ein bissl ja auch zu recht, der Text ist wieder einmal großartig, die Formulierungen spitze, die Pointen wohl gesetzt!
    Ich musste ein wenig an Irvin D. Yalom’s Buch „Denn alles ist vergänglich“ denken, in dem es viel ums Altern und Tod geht und ganz besonders musste ich – auch in Verbindung mit Anne H.s Kommentar – an folgende Stelle denken (der Ausschnitt eines Briefes einer an Krebs erkrankten Patientin): „Meine Aufgabe ist es, meinen Körper zu lieben, den ganzen Körper. Ganz und gar. Die ganze alternde tödliche mühselige scheiternde geheimnisvolle komplizierte atmende verdammte krebsige warme demütigende unverlässliche hart arbeitende unvollkommene schöne entsetzliche lebende kämpfende zarte angstvolle beängstigende lebende sterbende lebende atmende befristete wundersame rätselhafte heimgesuchte todkranke Sammlung von Atomen des Universums, die mein Selbst ist, bin ich für diesen Zeitraum. Dieser Körper, der verfällt. Der schreckliche und gefährliche Tumore züchtet. Der daran scheitert, sie zurückzudrängen, zu zerstören, aufzulösen, zu vernichten. Dieser Körper, der an der einzigen wichtigen Lebensaufgabe scheitert, nämlich am Leben zu bleiben, am Leben zu bleiben.“

    Liebe Grüße
    mo…

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