Einen Weißen auf die Post

Die Schweizer Ausgabe der ZEIT unter dem Arm, schlenderte Max ums Eck ins Café miró, in einem schicken Neubau, mit dunkelgrünen Fliesen verkleidet, das Nuttenviertel Zürichs aufwertend. Einer dieser Orte, wo der Kaffee nicht nur aufgebrüht, sondern auch manufakturiert wird, glücklicherweise ohne Vollbärtigen à la Kopenhagen hinter der Theke, der erwarten würde, dass Max sich für eine Kaffeesorte von Antigua bis Zimbabwe entscheidet, Röstarten unterscheiden kann und die Zubereitungsform wählt. (Wehe dem, der eine italienische Espressoröstung gefiltert haben möchte.)
Max bestellte an der Theke einen Cortado (Uff!) und setzte sich draußen in die in diesem Mai seltene Abendsonne. Der Nebentisch blieb nicht lange frei, eine adrette Sonnenbebrillte warf ihre Daunenjacke über einen Stuhl und grinste ihn, ihr blondes Haar über die Schultern werfend, keck an. (Darf ich ‚keck‘ noch denken und einem weiblichen Wesen zuordnen?, fragte sich Max.)
Sie setzte sich nicht. „Can you watch my stuff, I’ll be back in two minutes“. Ohne Fragezeichen. „Yes of course“ wartete sie nicht ab, sie eilte über die Straße davon. Zwei Minuten, wunderte sich Max einmal mehr über diese im Englischen übliche präzise Zeitangabe, na dann wollen wir mal sehen, wie lange die zwei Minuten dauern.

Max sah den Anfang einer „Was wäre wenn…?“-Geschichte.
Keines Liebesdramas, obwohl sich Menschen durchaus so kennenlernen. „Pass mal eben auf meine Sachen auf“, ein Augenzwinkern später quängelt der Nachwuchs im Loftneubau (großer Wohnküchenbereich, 3 Schlafzimmer in Schuhschachtelgröße, Loggia) und weder sie noch er schafft es fortan, zwischen Yoga und Kita im miró gemütlich einen FlatWhite zu trinken, höchstens einen ToGo.

Vor ihm stand die Kellnerin mit einem gespritzten Weißen und suchte…
„Sie ist kurz weg“, erfüllte Max beflissen seinen Aufsichtsauftrag.

Inzwischen hat er die Martensteinkolumne im Magazin gelesen.

Das Eis in ihrem Glas schmolz dahin.

Das Feuilleton war studiert.

Was wäre, wenn er den Wein tränke? Das führte direkt zum Kennenlernen, er hätte ihr selbstverständlich einen Neuen bestellen müssen, für sich selbst ein Glas mit, wäre feierabendbeschwipst… Siehe oben, was dann.

Was wäre, wenn die Sonnenbebrillte nicht wiederkäme?

Im Film gibt es diese Szenen, wo jemand auf eine Straße tritt und aus dem Nichts ein Lastwagen ins Frame donnert, ein Dummie wird durch die Luft geschleudert – Schnitt – tränenüberströmte Gesichter auf einem Friedhof oder Herzmaschine in einer Intensivstation. Piep-piep-piep.
Max hörte weder einen dumpfen Aufprall noch kreischende Leute noch eine sich höllisch schnell nähernde Sirene.

Erster Bund durch.

Im Schulhaus nebenan holten Eltern „Orson, Josaia, Valeska, Aurora“-rufend ihre Beiträge zur Klimaerwärmung ab.

Dossier, Wissen, Z durch.

Im Tatort gibt es manchmal Szenen mit „Mädchen“ dunkler Haut oder russischblondem Haar auf den Straßen der Städte, in denen der Tatort spielt.
Im Viertel, wo Max vor dem schicken Neubau saß, standen sie auch. Von frühmorgens bis spätabends, Dauerschichtbetrieb.
Was wäre, wenn der Tatort rückwärts liefe? Die Sonnenbebrillte in einen abgedunkelten Van gezogen worden wäre, auf einem lecken Boot übers Mittelmeer, durch die Wüste, irgendwann Nigeria. Oder Odessa, Novosibirsk, Karibik.

Als wäre sie wirklich nur zwei Minuten weg gewesen, saß die Blonde plötzlich wieder neben ihm und nickte ihm zu. Manche Menschen haben die Gabe der Nonchalance.

Sie trank keinen Schluck wässrigen Wein, sie machte sich sofort daran, ein Paket aufzureissen, fischte ein paar Schuhe aus dem Karton. Zu nuttig, dachte wohl nicht nur Max, sie ließ die sandalenähnlichen korkbesohlten Ungetüme sogleich wieder im Füllmaterial verschwinden.

Na dann, viel Muße beim erneuten Schlangestehen, dachte Max. Oder sagte er es laut?

6 Kommentare

  1. Lieber Urs,
    die nonchalente Blondine hat die Fantasie von Max ja bestens angeregt. Von Lovestory über Crime und Drama – alles dabei. Wenn sie die unerwünschten Schuhe (absichtlich?) unterm Tisch vergessen würde, könnte es eine Fortsetzung geben: Max auf Spurensuche…

    Herzliche Grüße
    Ulrike

    PS: Orson, Josaia, Valeska, Aurora – das habe ich in Karlshorst noch nicht gehört. Vielleicht heißen die Kinder am Prenzlauer Berg ja auch so ausgefallen.

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    • Liebe Ulrike
      Das nenn ich doch mal eine Schreibangregung. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung von Dir (wenn Du magst).
      Ganz liebe Grüße in den Karlshorst (wie heißt dort der Nachwuchs?)
      Herzlich, Urs

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  2. Lieber Urs,

    den Schreibimpuls nehme ich gerne auf – muss bis Montag einen Vorlese-Text für eine Lesebühne schreiben zu dem Thema „Sieben Streiche Leben“ – da habe ich irgendwie Märchen-Assoziationen und da kommt mir ein vergessenes Paar Schuhe Aschenputtel-mäßig sehr gelegen.

    Die Kinder in der Karlshorster Kita heißen z.B. Elisa, Jonathan, Ini und Milo. :-)

    Herzliche Grüße
    Ulrike

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