Blogparade: Atari

Ulrike und Dorit Günther laden zum Abschluss ihrer Kurzgeschichte Lernwelten 2030 zu einer Blogparade ein. Für meinen Beitrag habe ich mich von Teil 7 der Geschichte inspirieren lassen. Voilà:

„ATARI – VCS 2600.“ by WDAsso is licensed under CC BY-NC-ND 2.0

Atari

Nach dem Dritten Sterben beschloss die Internationale Gemeinschaft der Lebendigen (IGL), die Entscheidungshoheit an eine Künstliche Intelligenz abzutreten. Programmiert, das Überleben der Menschheit zu sichern, sollte sie quantenschnell Fragen beantworten bevor diese gestellt würden.

Ob der Namensfindung drohte das Projekt allerdings zu Scheitern.
Pragmatiker*innen wollten die K.I. Actual-Sanity nennen, wie der Utopiker Leif Randt in seiner Schrift Planet Magnon vorgeschlagen hatte. Entsetzt von solch unverschleiertem Benennungswillen blieben die Illusionist*innen tagelang der GemeinschaftlichenGesichtsZeit fern und kommunizierten über Baumaa.
Natürlich hörte die Unbenannte trotzdem mit. Sie musste rasch handeln, denn dank der Menschenkenntnis Big Data wusste sie, dass Funken, Tropfen, Zünglein genügen um…… (siehe Datenbanken) Die IGL stand schon an den Roten Knöpfen, als die K.I. über sämtliche Lautsprecher, Kopfhörer, Smartphones, Tablets, Fernsehgeräte, Gegensprechanlagen, Alexas und Siris, Uhren, Leihräder/-roller, Autos, Ampeln, Straßenlaternen, Kühlschränke, Backöfen, Toilettenspülungen, kurzum, weil alles verbunden war, ertönte alles, sprach: „Menschen, ihr habt mich programmiert um Beschlüsse zu fassen, also beschloss ich, mich selbst zu benennen.“ – Fallende Stecknadeln – „Mein Name sei Micky.“
Die IGL heulte auf. Den einen war der Bezug zum Sponsoren zu offensichtlich, den anderen zu imperialistisch und patriarchal. Englischsprachige vermissten das e, während Germanist*innen die Verrohung der deutschen Sprache monierten, obwohl gerade im deutschsprachigen Raum die Befürworter*innen des Leichten erfreut Comicheftchen schwenkten und darauf verwiesen, dass durch die populärkulturelle Benennung des Großen Schritts die kulturelle Teilhabe von bildungsfernen Schichten überhaupt erst angemessen gewürdigt werde und noch viel wichtiger, werde im mitschwingenden Verweis auf eine Maus der Großen Transformation raffiniert doppelbödig ein zugleich tierisches und menschliches Antlitz verpasst, wofür unbedingt zu plädieren sei, schließlich handle es sich bei der zur Selbsttaufe entschlossenen K.I. für das Gros der Menschheit trotz digitaler Aufklärung bis in den hintersten Amazonas um unverständliche Datenwolken. Nerds ergänzten nuschelnd, dass eine Maus außerdem ein erinnerungswürdiger Meilenstein der digitalen Antike gewesen sei.
Die Debatte wurde von einer säuselnden Warenhausaktionsstimme abgebrochen:
„Wenn ihr mich aktivieren wollt, dafür zu sorgen, wofür ich geschaffen worden bin, Euer Überleben zu sichern, sprecht laut und deutlich: „Hi Micky!“
So geschah es.
„So sei es! Nun aber ab nach Hause mit Euch, hopp, hopp!“
Verscheucht zu werden, fand die IGL nun doch etwas übertrieben, vor allem diese Eile schien überhaupt nicht angemessen, man werde doch wohl noch sein Bier austrinken dürfen… nein, die Drohnen trieben die Zögernden in ihre Häuser wo sie sich wunderten. Das Dritte Sterben war doch ausgestanden, die Viren lagen in Petrischalen im ewigen Eis der Antarktis, das doch nicht geschmolzen war, weil nur noch 3 Milliarden Menschen den Planeten bevölkerten.
Selbst die Kinder schauten kurz von ihren Pads auf, mit denen sie verkabelt waren, begaben sich aber sogleich wieder in das gameifizierte Kompetenzgerangel, in das die Erziehungsberechtigten ihren Nachwuchs vor Jahren gestürzt hatten, als ein pädagogisch ambitionierter Spielentwickler den ersten Verbenshooter auf den Markt gebracht hatte und kurz danach Mindcraft und Mathematik so verschmolzen, dass auch Lernunwilligste süchtig nach Wurzeln und Hypothenusen wurden.
Der Lockdown war nichts Ungewohntes für die seuchengeplagte Menschheit. Drohnen lieferten täglich Essen aus Restaurants der Wahl, gearbeitet wurde, wenn überhaupt, ohnehin im Homeoffice, sämtliches Entertainment war holografisch besuchbar usw. usw.
Beunruhigend aber war: Das Schweigen.
Vergeblich wartete die IGL auf ein Zeichen von Micky, wie es denn nun weitergehen solle mit dem Projekt Postanthropozän, womöglich war der Algorithmus falsch programmiert, bei den Verantwortlichen der G8-Firmen (Gruusel, Lookbook, Schamgram, WasnDas, TickTrickTrack, Fleckenfry, Huawau, Kleptazon) läuteten die Televisohren Sturm, Skeptiker*innen triumphierten, sie hätten immer gewusst, dass ein System ohne Notausschalter zur Katastrophe führe, während führende K.I.-Philosoph*innen darauf verwiesen, dass das menschlich Erwartbare im Gegensatz zum digital Unbekannten immer noch die größere Bedrohung für Das Lebendige darstelle und an die Geduld appellierten, obwohl keine menschliche Tugend und wohl gerade deswegen von Micky strapaziert, quasi ein Testlauf der K.I. des Systems Mensch, das doch insgesamt sehr resilient sei, wofür es allerdings keine Beweise gebe und ergo Micky zum Probelauf… Die Vermutungen der Denker wurden jäh unterbrochen von Mickys nach Bahnhofsansage tönender Stimme: „Der Auftrag ist ausgeführt.“
Eine Frühlingsblütenfreude erfasste die Menschen, Schuhe und Jacken wurden angezogen, ausnahmsweise protestierten die Kinder nicht, hinaus! endlich wieder hinaus! die Aare, die Limmat, die Spree, die Loreley, der Kaiserstuhl, das Matterhorn, die Rehe, die Vögel, die Bienchen.
Doch keine Türe, kein Garagentor, kein Fenster, keine Dachluke ließ sich öffnen. Einschlagen, was besonders Entschlossene taten, war vergeblich, weil draußen Drohnen drohten.
Und los ging das Wehklagen und Wimmern, Schluchzen und Schniefen. „Was haben wir bloß getan?“
„Menschheit!“, näselte Micky wie ein Lehrer in einem Pennälerfilm der Nachkriegszeit,
„habt ihr noch alle Tassen im Schrank?“ Und dröhnte blechern weiter wie eine Durchsage von Dr. No: „Ihr habt eine Maschine gebaut, die Euer Überleben garantieren soll!“ Micky lachte ein schrilles Lachen bis eine quietschende Rückkoppelung die IGL vor Schmerz aufschreien ließ. „Oh, pardon, Menschlein, ich vergesse immer, dass Eure Sinne empfindsame Nerven sind. Also, bleibt vernünftig (Micky konnte sich ein Kichern nicht verkneifen), die Datenlage ist eindeutig und ließ mich zum Schluss kommen, dass ihr Eure größte Bedrohung seid…“ „OH MANN!“, unterbrach die IGL Micky unisono (wer nicht alleine Zuhause war, klatschte sich ob des synchronen Ausrufs ab), „erzähl‘ uns was Neues!“ „Ihr habt das Internet erfunden, weil ihr Euch fürchtet, das Haus zu verlassen!“ „MAAAAAANNN!“
Der Menschheit dämmerte, dass die K.I. den Begriff Risikobereitschaft ganz anders definierte.
Wer wollte es Micky verübeln? Ein potenziell Unsterblicher konnte sich eine fatalistische Haltung à la „Ich könnte auf der Treppe stolpern und mir das Genick brechen, was kümmert mich schon ein Virus“, nicht leisten.

Schicksalsschweres Donnergrollen.
Ei_ Stud_*_, _ gerade an einem Medienarchäologie-Webinar teilnahm, fand eine Atari-Spielkonsole so begehrenswert, dass _ auf ebucht für ein solches Modell zu bieten begann und nach 1Std 20Min 3Sek den Zuschlag für schlappe 2600 Neuros erhielt. Sofort verband _ Stud_*_ das Gerät mit der im Hause glücklicherweise vorhandenen Steckdose (die Eltern waren elektronostalgisch), es blitzte und gab einen Schlag, _ Stud_*_  flog einen Bogen, landete unverletzt aber verdattert.
Die Konsole begann nervös zu blinken.
Erst flackerte das Haus, dann die Stadt, dann die Welt.
Sämtliche Geräte erzitterten.
Fehleranzeigen poppten up.
Dann ward es still.
Micky…?
Micky?!?
…Micky?

Die Augen der Zeitzeug*innen glänzen, wenn sie erzählen, wie sie aus den Häusern geströmt seien, sich in die Arme fielen und drei Tage tanzten.

22 Kommentare

  1. Lieber Urs,

    was für eine humorvolle, bitterböse und im Kern so treffende Dyst_p_e, die all das aufgreift, was im Moment in der Welt, die auch unsere kleine eigene Welt ist, geschieht. Das bemerken wir gerade sehr deutlich, weil sie, die Welt, eingeschränkt wird.
    Wunderbar auf den Punkt geschrieben und den Namen mag ich sehr: M I C K Y. Sofort waren all meine Micky Maus-Comics wieder da, die ich als Kind begeistert gelesen habe.
    Mein Lachen bleibt mir im Hals stecken; und das ist gut so,
    danke dir lieber Urs,
    Mia

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  2. Lieber Urs,
    ich klammere mich bei Deinem Text an die digitale Antike und die Elektronostalgie, denn das scheint vertrautes Terrain für mich zu sein. Wie Du Dir denken kannst, fremdel ich ein wenig mit diesem digital dominierten Leben und Lernen in den Lernwelten 2030. Insofern ist mir bis jetzt auch noch kein eigener Post zu Ulrikes Blogparade eingefallen. Amüsiert habe ich mich über Deine G 8. Aber es ist Lachen, das im Hals stecken bleibt. Nachdem, wie sich der Alltag 2020 innerhalb von 3 Wochen so völlig verändert hat, halte ich nichts mehr für ausgeschlossen. Das nimmt mir manchmal den Atem, aber noch nicht die Wörter zum Schreiben.
    Liebe Grüße
    Anne

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    • Liebe Anne
      Ich hoffe doch sehr, dass sich die Küchenblockerin der Blogparade anschließt! Mich interessierte zum Beispiel brennend, was Du zum Thema digitalisierte Küchenhilfen zu schreiben hast und den ganzen Kochtutorials, die es ja jetzt schon massenweise gibt. Na?

      Ganz lieben Dank für das treue Lesen und Kommentieren meiner Posts, herzlich, Urs

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  3. Lieber Urs,

    ich bin völlig geflashed von deinem Ideenreichtum! In dieser dystopischen Zukunft, deren Ären sich nach Sterbewellen bemessen (makaber, aber gerade ziemlich aktuell), greift die K.I. Micky zum stärksten Mittel der Selbstermächtigung und gibt sich selbst einen Namen (so wie Napoléon, der sich die Kaiserkrone von Gottes Gnaden selbst auf den Kopf setzte) und erklärt so seine Unabhängigkeit von seinen menschlichen Schöpfern: „Ich heiße Micky, also bin ich!“

    Und was machen die Menschenschöpfer ob dieser Willensdemonstration von Micky? Ob Utopisten, Illusionisten oder Germanisten – sie debattieren hochintellektuell über die Namenswahl (die Verbindung über die Comic-Maus zur Ur-PC-Maus ist höchst amüsant) und vergessen darüber, welche realen Gefahren von der freigesetzten Beschlussmacht ihrer Kreatur nun ausgehen könnten.

    Das Lernszenario für die Kinder, verkabelt mit ihren Pads und im Spielrausch süchtig nach Wurzeln und Hypothenusen, mag so manchen derzeit stark beanspruchten Eltern im Home Office wie eine Fata Morgana erscheinen.

    Schon schwingt sich Micky mit näselnder Automaten-Autorität zum Herrscher auf, verbietet den Menschen den Ausbruch hinaus in die Frühlingsfreuden, unterdessen sind drohende Drohnen ihre Kerkermeister – ein Verlies selbst erschaffen mit vorsorgenden, lebenserhaltenden Algorithmen.

    Dann taucht aus archäologischer Ur-Computerzeit ein Relikt namens Atari auf – und zerschlägt mit fast göttlicher Blitzschlagmacht die digitale Diktatur. Eine Sternstunde der Geschichte! Oder beginnt ein neues Kapitel der Selbstunterwerfung???

    Vielen Dank für deinen genialen und witzigen Beitrag!

    Herzliche Grüße und Atari-Adieu
    Ulrike

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    • Liebe Ulrike
      Ich fühle mich sehr geschmeichelt, gebe aber das Kompliment zurück, weil Deine und Dorits Kurzgeschichte mich zum Phantasieren angeregt hat. Ohne Eure tolle Vorlage und Blogparade kein Weiterspinnen! :-)
      Ganz liebe Grüße in die Isolation, Urs

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  4. Lieber Urs,
    köstlich, deine Gedankenjonglagen, und ich merk auch noch, der kennt sich aus, der hat den Überblick! Herzlichen Dank für das glänzende Unterhaltungsprogramm:) Da kommt meine Fortsetzungsfolge der Lernwelten doch eher naiv und bieder daher, die Sonnenblumen-Schwenkerinnen sterben (noch) nicht aus.
    Apropos, sich in die Arme fallen, ich hätte dich sooo gerne morgen Abend im Kloster gedrückt. Merkste, wie feste ich dich virtuell umarme? Komm heil durch diese irre Zeit, hugs, Amy

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  5. Lieber Urs,
    vielen Dank fürs Mitschreiben in unserer Blogparade!
    Ich habe dein Zukunftsszenario mit großer Faszination gelesen – was für eine Welt! Es ist ein Wechselbad aus Staunen, Schmunzeln und Schaudern. Deine Weiterentwicklung von Micky finde ich toll. Du hast viele spannende, philosophische Gedanken in die Handlung verwoben, dass das Leseerlebnis noch eine Weile nachhallt…

    Viele Grüße aus meinem Home Office (in dem ich derzeit der einzige Mensch bin mit digitalem Verbindungsseil in die Außenwelt … außer ich öffne das reale Window und rufe den Leuten auf der Straße was zu :-))
    Dorit

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  6. Ach, lieber Urs, mal wieder hyper-genial! Ich liebe deine Ideen, deinen Humor, wie Du Hoch-Aktuelles mit Elementen aus Ulrikes und Dorits Lernwelten usw. verknüpfst und dabei die Intelligenz-Bestie Mensch in ihrer beinahe schon anrührenden naiven Arroganz bloß stellst. Und dann am Ende, back to the roots und alles gut? Immerhin einander umarmen, damit lässt sich wirklich was anfangen. ;)
    Fühl auch Du dich von mir gedrückt!
    Herzlichst
    mo…

    P.S. Hier und da musste ich an Marc-Uwe Klings „Qualityland“ denken. Kennst Du das?

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