Auffahrt Neukölln

SIE will mir die Worte nehmen. Meine Zunge hängt nur lallend heraus, kaum öffne ich den Mund. Aber noch kann ich tippen. So will ich denn berichten, was in den letzten Tagen sich ereignete, bevor es zu spät ist und die Welt. Ja was?

Es fing damit an, dass ich ungewöhnliche Geräusche hörte. Nicht den dauerprobenden Chor meiner Ichs, dessen gregorianisches Grundsummen gerade kastriert wird, mehrere Urse singen schon Händelfalsett, es ist ein Graus.
Es ist nicht der Sohn der Nachbarin von Oben, der pubertiert, als ließe er sich mit verschluckten Kreissägen von Schränken fallen.
Die Frequenzen der Nachbarstöchter von Gegenüber sind mir auch bestens vertraut. Seit die Ältere einen Freund hat, piepst sie nur noch, während ihre hormonelle Schwester auf sich alleine gestellt ihre erste Blutung beweint.
Vielleicht ist es dieser rote Gedanke, vielleicht Yoko Ono.
Jedenfalls meine ich, als ich mich morgens von der Schüssel erhebe, unmittelbar hinter mir, quasi direkt am rechten Ohr, ein Murmeln zu vernehmen, muss aber warten bis das Rauschen der Spülung abebbt. (Ich musste spülen, weil konzentriertes Hören bei braunem Gestank schlecht gelingen will.) Da! Es ist eine der Plastikmadonnen, die auf der Ablage über der Schüssel stehen. Die verdächtigte Madonna ist ein Behältnis für Weihwasser, tatsächlich war einst solches drin, aus Einsiedeln, wo ich wegen des rosa Prunks und der schwarzen Madonna war, nicht wegen Gott.
Das Klo scheint für Kitsch ein genügend ironischer Ort zu sein, obwohl mancher Besuch Gläubigkeit dahinter vermutet. Schwierig den kulturellen Code zu erklären, vielleicht so: das Faszinierende an IHM ist nicht seine Unwahrscheinlichkeit, sondern die begleitende Kommerzmaschine; an Pilgerorten Stände voller Tand, blinkend, glow-in-the-dark.
Das Ungefähre der alltäglichen Wahrnehmung ließ mich die Madonna zwar nicht vergessen, auch nicht ihre milchige Nachbarin, schiefstehend, weil wohl schlecht gegossen in diesem China, dafür so himmelblau wie die Flasche koffeinhaltiges Haarwaschmittel, das ich brauche, seit ich weiß, dass ich altere. Aber wie es so ist mit manchen Dingen, die ewig da stehen und/oder hängen, sie Verschwinden ins Schleierhafte der Augenwinkel.
Stille tritt ein, so laut, dass mein Blut rauscht, mein Herz springt, ohgottohgott, nicht jetzt, nicht der Infarkt, den ich fürchte. Schnell die Hose hochziehen. Halb entblößt sollen sie mich nicht finden. Doch das Herz schlägt nur etwas schnell und wummert wie der Bass im Berghain, dessen Wellen Madonna ganz leicht ins Wanken bringt.
Und also sehe ich.
Tröpflein Blut.
„Lacrime di sangue!“ (Das wollte ich schon immer mal ausrufen!)
Ich setze die Lesebrille auf und nähere mich ihrem Gesicht, Sibylle Bergs nicht unähnlich, tatsächlich, es strömt aus ihrem linken Auge, am Fuße bildet sich bereits eine Lache.

Ich kann nicht en detail schildern, wie ich meine Wohnung für den zu erwartenden Ansturm vorbereitete. Nur soviel: Das Gesundheitsamt ist informiert. Die Aerosolfilterung auf dem Zuweg ins Badezimmer ist garantiert. In einem anderen Zimmer, einem mit engelsgesichtiger Stukkatur, legte ich Matratzen aus für Jene, die angesichts des Mirakulösen vergessen zu atmen und also dort ruhen können, bis sie zu Bewusstsein kommen, obwohl die Frage nach dem, was sie da wiedererlangen wahrscheinlich the crucial point ist, denn ebenjenes trügt.

Den Nachbarn gab ich Bescheid, dass im Treppenhaus bald rund um die Uhr gepilgert werde. Sie witterten das Geschäft, sägten Durchreichen in die Wohnungstüren, sicherten die Löcher mit Plexiglas und hängten Menüs aus, die den Wartenden von Ayran bis Knacker mit Kartoffelsalat alle irdischen Köstlichkeiten schmackhaft machen.
Die Nachbarin unter mir, zu alt und zu viel Wasser in den Beinen, um eine Störküche zu eröffnen, war besonders findig. Wer eine Münze in einen Schlitz wirft, erhascht einen kurzen Blick auf eine, die sich als Risikogruppe schauerlich selbst zur Schau stellt.
Die Jüngeren bauten auf Minecraft mein Badezimmer nach, akkurat, muss ich zugeben.

Inzwischen hat sich der Hl. Stuhl angekündigt. Bei Manufactum suchte ich deswegen vergeblich nach Wannen für Fusswaschungen. Leihkreuze wollte mir die Kirche ums Eck keine geben, elendige Protestanten!
Immerhin schaffe ich es zum Frisör, der Schnitt meiner Mähne ist dringend nötig, will ich nicht stellvertretend himmelfahren, mich an Vaters Seite setzen und Muttergottes Show stehlen. (Obwohl ich mich dafür derzeit lebendig-tot genug fühle.)
Bevor mir die Schere ans Ohr kann, empfange ich einen Anruf vom Xavier, der wissen will, ob es Kinderblut sei, was da träne. Ich versichere ihm, seit Jahren nur Äpfel anzubeissen und die Madonnen nicht, wie er mir unterstellen will, B und M nenne. Aber ich sei doch trotz Ressentiments gegen die Maskenpflicht in der Gemäldegalerie gewesen (woher weiß er das?) und habe dort den Kindsmissbrauch hundertfach in Öl in Augenschein nehmen können (durch beschlagene Gläser, möchte ich erwidern).
Ich fürchte, die Chose könnte sich zum Gate entwickeln.
Auf der Karl-Marx-Straße sehe ich apokalyptische Schlangen vor Ramschläden anstehen, will lospredigen. Oh shoppt Euch doch zu Tode! Davon hält mich ein Koch ab, der mir einen veganen Burger ins Gesicht klatscht. Durch den Zwiebelvorhang erkenne ich ein einstiges Vorzeigestück für gelungene Integration. Ich muss zugeben, die Sosse schmeckt.
Trotz Schleier sehe ich brennende Mobilfunkantennen und Michel Houellebecq, der in mein Haus stürmt. Täusche ich mich, oder ruft er Reconquista!?
Ich reinige mein Gesicht am Kopftuch einer Seniorin – Alice Schwarzer inkognito? – und eile nach Hause, der Koch mir hinterher, begleitet von einem Pulk heulender Hygiänen, die die Stecken, an denen sie ihre Theologie auf Kartons qundtun, wie Speere nach mir schleudern.
Ich verbarrikadiere das Haus, renne nach oben, ziehe an den Seilen und ergötze mich, wie kübelweise Pech und Schwefel über die Idioten sich ergießt.

Dann vernehme ich die Stimme aus dem Bad.
Sie gehört nicht der anbetungswürdigen Maria Hofstätter, ist nicht gefilmt von Ulrich Seidl.
Sie gehört nicht dem Unterworfenen aus Frankreich. (Ja wo ist er denn, der Michel?)
Sie singt nicht, sie kreischt: Die Ehe für Alle ist schuld!
Das reicht. Ich stelle die Unkorrekte in den Backofen, wo sie in sich zusammenschmilzt.
Die Überreste schicke ich in Alufolie gewickelt an…
Putain! Ich habe die Adresse dieses Russen verlegt.

Zum Schluss die Leander.

6 Kommentare

  1. Lieber Urs,

    was für eine irrwitzige kaskadenförmige Wallfahrt, da bei dir im Badezimmer. Ich bin aus dem Lachen nicht mehr herausgekommen. Was für ein sprachgekonnter Wortwitz?
    Immer weiter und und noch weiter und noch weiter …
    Danke, du Wortakrobat,

    Mia

    Gefällt 1 Person

  2. Lieber Urs,

    ja, Zarah Leander hat es voraus gesungen: In deinem Bad ist wahrhaftig ein Wunder geschehen! Ich bewundere deine Geschäftstüchtigkeit, mit der du deine heiligen vier Wände in einen Pilgerort verwandelst – leider benimmt sich deine Blut weinende Maria nicht so herzensgut, wie man es von der Mutter Gottes erwarten dürfte – da lass deine Haare dank Koffeinschampoo ruhig wieder lang wachsen, damit du ihr dort droben Konkurrenz machen kannst.

    Nachdem dein Bad nun wieder verwaist ist, kommen vielleicht deine inneren Urse im Händelfalsett wieder zum Einsatz – die würde ich zu gerne singen hören!

    Vielen Dank für diesen aberwitzige und wortakrobatischen Trip – der leider zu schnell wieder
    „ins Schleierhafte der Augenwinkel“ verschwindet.

    Herzliche Grüße
    Ulrike

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..