Cage

Empirisch gesehen sind wir aus Sternenstaub gemacht. Warum sprechen wir nicht öfter darüber? Keine Materie geht je verloren. Sie wird nur recycelt und neu zusammengesetzt. Das war es, was du mir immer wieder sagtest, als wir uns gerade kennenlernten – dass auf eine wirkliche, materielle Weise jedes Was aus einem Wo gemacht ist. Ich hatte keine Ahnung, was das hieß, aber ich sah, dass du dafür branntest.
Maggie Nelson, Die Argonauten

50×50, Tag 21

50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).

Was bisher geschah: Ich sah, was ich kriegte, feuerte das Tschechowsche Gewehr aber trotzdem nicht ab, weil ich sonst genausogut ins Militär hätte können. Was ich knapp verhindern konnte.
(Vortag: WYSIWYG / Folgetag: Irreversibel)

Tell gratulierte nicht

1991 feierte das Ancien Régime in der Schweiz 700 Jahre Eidgenossenschaft, allerdings schon schwer angeschlagen von der noch nicht weit zurückliegenden Armeeabschaffungsinitiative, deren beachtliche 36% Ja-Stimme arg am Glanz der Heiligen Kuh kratzten und der Fichenaffäre, der zutage förderte, dass die Schweiz ihren (linken und ausländischen) Bewohner:innen nicht traute und sie systematisch bespitzelte (von 1900 bis 1990 rund 900’000 Menschen).

Die Wilhelm Tells gratulierten mir am 25. Januar 1991 nicht zu meinem Zwanzigsten Geburtstag, auch weil ich tags darauf nicht wie geplant in die Rekrutenschule einrückte. Ich sparte alles Geld zusammen und flog nach New York, Stadt meiner Träume (siehe auch: Expose).

Meine sexuelle Orientierung begann zu vibrieren. Filme wie My Own Private Idaho mit Identifikationsfiguren wie River Phoenix und Keanu Reeves gaben ihr einen Namen, der nicht La Cage aux Folles heißt und wo sich keiner mit Gayface über Homosexuelle mokiert, wie über Schwarze in einer Minstrelshow.

Cis-

2020 fehlen mir Identifikationsbilder älterer Schwuler, überhaupt älterer Männer. Gesellschaftlich bin ich als weißer (älterer) Mann ja gerade total out, aber immerhin schwul. Im szeneinternen Diskurs reicht Letzteres manchmal nicht, dort sind schwule Cis-Männer Establishment, die auf gesponserten Lastwagen ihre Pride zur Schau stellen und bumsfidel zwischen Barcelona und Berlin hin und her fliegen.

Mit Freunden am Küchentisch sitzen, wie über die Weihnachtstage in der Uckermark, im Haus eines Freundes, das war schön.
Da sprachen wir auch vom Wie des Alterns.
Zusammen lebt man weniger allein.

Maison Du Futur

2051
Max hat seine statistische Lebenserwartung, 80, die er um 20 Jahre überlebt hat, nun doch erreicht. Wanda fragt ihn, wie es sei, retrospektiv, tot gewesen sein zu müssen.
Solange er mehr Farbe im Gesicht habe als Blixa und ihm Brasilianer nachflögen, wie der mit dem Prisma dort hinten, fühle er sich putzmunter. Er sei nach der Extrarunde bis Hundert als Achtzigjähriger ganz froh, einigermaßen schadlos durch die Zeiten gekommen zu sein, könne aber bis heute nicht sagen, ob es daran liege, dass er sich frühem Erwartungsdruck nicht gebeugt habe, seinerseits aber nie aufhöre, von diesem sogenannten Leben viel, mehr, noch mehr zu erwarten und es darum immer weiter ginge– jäh wird Max unterbrochen vom klingelnden Scheppern der Schreibmaschine, die zum dritten Mal in die Geschichte fliegt, um die Handlung voranzutreiben. Würde da nicht auch der Brasilianer am Himmel schweben und mit dem Prisma auf Grace Jones zielen, die sich im Regenbogenkäfig aufzulösen beginnt, bis nur noch Staub von ihr übrig ist.
Die Strahlen fangen nun den Bargeld, auch Nick Cave ist bald zerronnen, Paul.B., oweh, auch Wanda. „Tschüss“, ruft der Vaporisator bevor er davon düst und das Prisma in Yokis Hände plumpst.
„Dann sind wir wohl wieder unter uns“, meint Ben.
„Ist wohl so“, pflichtet Mia:o bei.
Yoki nickt und Max brummelt etwas vor sich hin, während er auf die Schreibmaschine starrt.
Er setzt seine Finger in Grundstellung und tippt: N I C H T S

Eingangszitat:
Maggie Nelson: Die Argonauten. Hanser, Berlin, 2. Aufl., 2020. S.157 (Hervorhebungen übernommen)

4 Kommentare

  1. Wunderbar, lieber Urs, ich bewundere dich wirklich für diese Idee, dein Durchhaltevermögen und denke, das wäre ein Buch wert. Ist es nicht Vorlage, wie wir uns der Gegenwart aus Vergangenheit und Zukunft nähern können?
    Der Jahreswechsel nähert sich, das Alter rückt aus… uns zu umarmen, uns zu quälen? Gott sei Dank wissen wir nicht, was kommt…

    Liebes von Hedda

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  2. Lieber Urs,
    verzeihst du mir, wenn ich dir sage, dass mich die scheppepernd herbeifliegende Schreibmaschine an Harry Potter erin erinnert, den ich gerade wieder schaue. ;-)
    Ich mag das Bild, wenn sie vorbeikommt und die Geschichte vorantreiben möchte.
    Und ich mag den folgenden Satz, der tröstet: *Da sprachen wir auch vom Wie des Alterns. Zusammen lebt man weniger allein.*
    Und darüber hinaus, sind es doch auch unsere Worte, die uns immer wieder miteinander verbinden und eine und mehr Zeilen lang zuhause sein lassen,
    nachdenkliche Grüße,
    Sabine.

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