Emaille

(Johanna, 50. Alleinerziehend, Sparrücklagen, katholisch, strenge Erziehung, keine Freunde, keine Hobbys. Abonniert die christliche Frau oder das christliche Tier oder was. Onaniert nie)
Sibylle Berg, Sex II

50×50, Tag 28

50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).

Was bisher geschah: Vom Trade in London über die Loveparade in den Tresor zur Begeisterung über die ersten 71 Seiten von Neon Pink & Blue.
(Vortag: Hoch X / Folgetag: LOL)

Café del Mar

1998
Wenn es draußen schneit und ich den Schnee zuerst durchs Fenster sehe und nicht auf Instagram, wohl weil Berliner Stadtschnee weniger pittoresk ist, als verschneite schweizerische Märchenwelten, also vieler Filter bedürfte, um instagrammable zu werden, frage ich mich, wann und warum das Draußen eigentlich in Mode gekommen ist.

Lag es daran, dass verrauchte Kneipen allmählich in Verruf gerieten und Alle plötzlich auf der Terrasse sitzen wollten, als wäre überall Café del Mar? War es, weil sich das Schönheitsideal von nachtbleich zu unterwäschemodelmuskelbraun wandelte und Innenstädte zu Laufstegen wurden? Lag es an Goa, Ibiza oder Open-Airs auf Alpen?

Vielleicht war Sibylle Berg schuld, weil wegen ihr Sex vorläufig nur noch ironisch möglich war und die Betten also verlassen werden mussten, bevor dieser peinlich wurde. Die Berg ist nicht alleine schuld, dass wir das Spazieren, „dr Aare nah“, dem Geschlechtsverkehr vorzuziehen begannen.

Fellatio

In Amerika beteuerte der Präsident: „I did not have sexual relations with that woman.“
Er hatte ja auch nie inhaliert.
Aber offenbar ejakuliert, auf das Kleid seiner Praktikantin.
Leicht angeekelt, aber amüsiert, verfolgte ich die Impeachment-Komödie, wobei es zwei Lager gab. Die Einen sahen in der Bläserin einen öffentlichkeitsgeilen Vamp, die sich mit erpresserischer Absicht vor den wehrlosen Bill kniete. (Wie hätte er auch widerstehen können?) Die Anderen sahen einen notgeilen, omnipotenten Beau in den besten Jahren, der machtvergessen eine Praktikantin zur Fellatio orderte.

Eisberg

Auch Leonardo di Caprio musste eine Frau an der Brust haben, als er sie an die Reling der Titanic drückte und „I am the king of the world“ ins Polarmeer schrie, begleitet vom Gesülze dieser Kanadierin, deren geheulter Herzschmerz monatelang an jedem Eck drohte. Dates scheiterten, wenn Einer meinte, romantische Musik auflegen zu müssen (auch deswegen weniger Sex). Es war ein Klassifizierungsmerkmal: „Der sieht aus, als würde er im Bett Céline Dion spielen.“

Bemerkenswert, dass dieses Bild von Kate Winslet, die Arme zu Flügeln augebreitet, festgehalten von einem Jüngelchen, nicht aus dem Repertoire der Mädchensehnsüchte zu tilgen ist; festgehalten vom König der Welt, der ihr am Ohr vorbei schreit, auf dass sie ihm gehöre. Woraus bekanntlich nichts wurde, weil er heroisch auf den Meeresgrund sank, während sie auf einem Stück Holz trillerpfeifend dem Tode entkam, um der Welt Kinder zu gebären.

1998 bescherte uns den Hit „Barbie Girl“.
1998 starben Falco und Pol Pot.
1998 kam Schröder an die Macht.

Burgfräulein

2021
In der Gegenwart erscheint mir der eben skizzierte Ausschnitt aus der Vergangenheit schmaler als die Schiessscharten eines düsteren mittelalterlichen Schlosses. Ob den Burgfräuleins auch ganz eng ums Herz war, in Sehnsucht nach dem Draußen oder ob sie angesichts der dort lauernden Räuberhorden, ganz glücklich am Spinnrad drehten und dem Narren lauschten?
Um Kopf und Kragen muss sich dieser schreiben. Wenn er den Spannungsbogen nicht hochkriegt und das Prinzesschen gähnt, rollt sein Kopf, da kann er noch so den Sonntag, den Schnee und die Sibylle bemühen.

Was hat es zu bedeuten, wenn der Bogen des alltäglichen Allerleis (so eintönig wie ein Einerlei ist der Alltag auch unter Corona nicht) darin einen Höhepunkt findet: Gestern verfolgte ich im Badezimmerspiegel, wie meine Brillengläser langsam aufhellten, die von einem Spaziergang an der Sonne noch verdunkelt waren. (Heute bleibt mir das Vergnügen verwehrt, weil es schneit.) Werde ich das nächste Mal mit Stoppuhr die Zeit messen? Nicht mit einem Chronometer mit Halsband, sondern dem Smartphone (das ich nicht à la Mode mit Bergsteigerseil geschultert trage).

1998 hatte ich noch kein Handy. 1998 richtete ich, meine ich mich zu erinnern, meine erste E-Mail-Adresse ein. Zuvor war ich auf einer Amerikareise nach meiner E-Mailadresse gefragt worden war und angestarrt wurde als würde ich jodelnd kommunizieren, weil ich keine Ahnung hatte, was E-Mail ist und fragte, warum ich eine andere Adresse, als meine Postanschrift bräuchte. Offensichtlich habe ich aufgeholt. In einem Arbeitszeugnis aus dieser Zeit steht:

Herr Küenzi ist ein versierter Informatik-Anwender (PC und Macintosh).

Maison Du Futur

2044
Der agile 73-jährige Max fühlt sich zu jung für ein Präsidentenamt. Weil seine Zeit rückwärts läuft, hat er seine Chance sowieso verpasst. Aufgrund des Senioritätsprinzips fühlt er sich dennoch legitimiert, der Gruppe vorzuschlagen, eine Radtour zu unternehmen durch die sanfthügelige uckermärkische Landschaft zum Waldsee.
Fehlen nur die Räder, die Yoki sofort heranprismiert, ultraleichte Segelbikes mit Hilfsmotor. Max weigert sich aufzusteigen. „Für die Fabrikation haben die damals einen ganzen Wald abgeholzt! Ich gehe zu Fuß!
Stunden später erreicht endlich auch Max den See, an dessen Ufer Ben sich sonnt.
„Wo sind Yoki und Mia:o?“
„Die sind abgetaucht.“
„?“
„Es soll eine unterirdische Höhle geben voller Lurche geben deren Sekrete ewige Jugend versprechen.“
Max will sofort in den See springen, zögert aber, weil er auch Ben küssen könnte, jetzt wo sie endlich mal alleine sind.
Ben lächelt.

(Thomas, 23. Arbeitslos. Hobby: Musik hören. Onaniert zu Airbrush-Bildern, wo langhaarige Wikinger und Frauen mit Metallrüstungen drauf sind)
Sibylle Berg, Sex II

Sibylle Berg: Sex II. Reclam, Leipzig, 1998. Eingangzitat: S.13. Schlusszitat: S.103

12 Kommentare

  1. Lieber Urs, danke für den täglichen Flashback, den ich wie ein Burgfräulein in meiner Kemenate erwarte, aber nicht immer zurückschieße. Gegähnt habe ich noch nie deshalb. Ja, auch ich war 1998 versierte Anwenderin, meine Mailadresse von der HU war schon mindestens zwei Jahre alt, sogar auf Kuba erreichte mich bisweilen Elektropost. Dort erreichte mich auch die Kunde vom Zippergate, ja im Staatsfernsehen sah ich sogar eines Sonntagnachmittags Jack und Rose im Nordatlantik baden. Neben mir schmachtete ein Obermacho bei Céline. Als Schröder die Wahl gewann, saß ich in einem arabischen Kiosk in der Jaffa Street, mir scheint ich war viel unterwegs seinerzeit.
    Jetzt aber mal ran an Ben, gell?
    LG von Amy, die weder 2020 noch 2021 Schnee berührt hat.

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    • Liebe Amy
      Du bist ja auch die Digitale!
      So. Jetzt will ich aber mehr wissen vom Schmachtenden und der Jaffa-Street.
      Kemenate musste ich googeln :-)
      Miss Novice, wir reisen wieder, ja?
      Vielleicht mal auf einen arabischen Kaffee. Tangier, auf den Spuren von Burroughs oder Only Lovers Left Alive?
      Herzlich, Urs
      (Ach wäre da ein Ben, ich sänge ihm ein Minnelied.)

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      • Für den Schmachtenden müsstest du mal in meiner Emma lesen, das wiederhole ich nicht so gerne. Aber nach meinem Landwirtschaftsdiplom bin ich nach Israel, den Sinai und Jordanien gereist, da gab’s arabischen Coffee en masse. Maghreb, ja bitte, da hat mich noch nie jemand hin begleiten wollen, wann buchen wir? xxx Amy
        (sing die Minne und die Bens werden folgen)

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  2. Lieber Urs,

    ich gebe zu, dass ich auch gerne im Titanic-Schnulz-Schnief-Meer gebadet habe, ganz ohne Schwimmweste. Die penetrante Stimme von Celine Dion ist mir allerdings auch schnell auf die Nerven gegangen – auch wenn der Song irgendwie ins Ohr ging.

    Herzliche Grüße
    Ulrike

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  3. Lieber Urs,
    1998 gehörte zur ersten E-Mail-Adesse das Geräusch des Routers, wenn mich meine Freizeit-Erinnerung nicht trügt, der/die Internet signalisierte und dabei eine ähnlich langatmige Geschwindigkeit hinlegte, wie das Sinken der Titanic … ich habe diesen Film einmal gesehen und bis heute nicht verstanden, wie frau/man da bis zum Ende durchhalten kann … ich konnte es nicht, hätte ich damals schon ein Smartphone gehabt oder gezeichnet, hätte ich das dabei getan und wäre nicht eingeschlafen …
    Liebe Grüße
    Sabine.

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