Eat the Rich

Wie wäre es, wenn Lust, Begierde und Überfluss unser Leben bestimmten? Nicht nur Bedrückung, Vorsicht und Anti-Reflux-Tabletten.
Simon Strauss. Sieben Nächte

50×50, Tag 40

50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).

Was bisher geschah: Ich lud Künstler aus Israel nach Berlin ein, machte Feldenkrais. In der Zukunft nervte sich Max über Schwanzvergleiche.
(Vortag: Rückgrat / Folgetag: Kalben)

Traumsuppe

2021
Heute Nacht ist mir meine Suppe im Traum erschienen, ich wurde gewahr, dass ich die Reste nicht kühl gestellt hatte. Sie musste noch im Standmixer sein.

Je älter ich werde, desto zerknautschter erwache ich, innerlich wie äußerlich. Neuerdings greife ich frühmorgens, noch daunenbedeckt, zum Smartphone und schaue nach, wer mich über Nacht geliked hat, ob die USA noch existieren und welche Maske wo Pflicht ist. Danach schlurfe ich unter die Dusche, wehe man stehe mir im Weg! Wehe ich sehe mich im Spiegel! Die Gedanken stottern unter der Brause an wie ein Außenbordmotor, erste Stichworte müssten notiert werden, bevor sie den Abfluss hinunterfließen.

In der Küche nun, besagte Suppe, gekocht und geträumt. Wie ruhig, frage ich mich, ist mein Leben derzeit, wenn meine nächtliche Sorge eine stehengelassene Lauch-Kartoffel-Crèmesuppe war?
Wie unkompliziert wird mein Tag, wenn die größte Herausforderung die Entscheidung ist, ob Ausguss oder Kühlschrank? Wie rein mein Gewissen, nur von Resteverschwendung belastet?

Wie sinnleer und -los ein mit Suppe angefangener Text, der keine Diskussion einführt über den pädagogischen Wert Wilhelm Buschs Suppenkaspar?

Empört Euch!

2010/2021
Vielleicht habe ich von Suppe geträumt, weil 2010 die sogenannte Eurokrise war und den Piigs befohlen wurde, den Gürtel enger zu schnallen, während Haie und Geier kreisend auf Untergang spekulierten (Ausverkauf! Ausverkauf!). Faul seien die Südländer, von der Hand in den Mund lebten sie, Dolce far niente, das hätten sie jetzt davon. Europäische Union. Genau.

Empört Euch! war der Schlachtruf, angepfiffen von Stéphane Hessel.
Schwarze Zahlen! verordnete Schäuble Deutschland.

Woher, frage ich mich, kommt eigentlich in der jetzigen Krise plötzlich das ganze Geld? Von den Konti der Superreichen, die freiwillig mehr Steuern bezahlen (wenn überhaupt)? Haben die Banken ein Cum-Ex-Geschäft erfunden, das den Staaten zu Gute kommt?

Empörung//mich erst recht empörte//wüsste ich, was wirklich läuft//nichts entgegensetzen kann//außer Ausstieg aus dem Geldkreislauf//mit welchen Naturalien zahlt ein Städter////etwas muss man zu verkaufen haben//

Küchenfreud

Was, frage ich mich, sonst kein Traumdeuter, hat eigentlich Freud zu Suppe geschrieben, nehme die Studienausgabe „Die Traumdeutung“ zur Hand und google analog im Anhang im Register. Bei den Symbolen steht keine Suppe, passte aber zum “Spargel” (Freud S. 630), finde ich.
Dem Analytiker träumte offenbar auch nicht von Suppe, aber vom “Trinken in vollen Zügen” (Freud S. 624). Damit meint er nicht, dass er sich in Zügen besäuft, wie partyfreudige Jugendliche auf dem Weg in die Stadt, sondern dass ihm nächtens träume, er trinke:
„Ich schlürfe Wasser in vollen Zügen, es schmeckt mir so köstlich, wie nur ein kühler Trunk schmecken kann, wenn man so verschmachtet ist, und dann erwache ich und muss wirklich trinken.“ (ebd. S.142)
Er leitet daraus den “Bequemlichkeitstraum” (ebd.) ab: Wenn es ihm gelänge, das Durstlöschen nur zu träumen, müsste er nicht mehr erwachen und trinken.

Ich blättere zur zweiten verzeichneten Stelle auf Seite 239 und bleibe oben bei
(gen Italien – Genitalien) * hängen
und grinse schief, weil der libidinöse Wiener dazu schreibt, die Italienträume einer Patientin, die nie dort gewesens sei, seien sexuelle Traumgedanken. Solches hätte ich doch eher vom Spargel erwartet.

Im Namen- und Sachregister gibt es zwar viel zu “Erinnerung” (ebd. S 648f), Einiges zu “Erregung” (ebd. S.649) aber keinen Eintrag zu Essen. “Koitus” hat mehrere Einträge, “Kokain” ebenso (beide S.659), Kochen oder Küche keinen. Ich blättere erneut (muss ja gegenchecken) und finde im Symbolregister doch noch: “Küchenverrichtungen” (ebd. S.630):
„In scheinbar harmlosen Anspielungen an die Verrichtungen der Küche lassen sich die hässlichsten wie die intimsten Einzelheiten des Sexuallebens denken und träumen.“ (ebd. S. 342)

Da denke ich an Tampopo, diesen verrückten japanischen Nudelfilm, der sich nicht ohne Erotik über die Erotik des Essens lustig macht. An das La Grande Bouffe und natürlich an:
Eat the Rich!

Maison Du Futur

In der Zukunft sind Max und Ben in einer Fabrik, die vegane Fleischersatzprodukte herstellt. Ben, als er noch in der Gegenwart war, jüngster Sternekoch Deutschlands, verliert darob seinen Geschmackssinn, was Max an Corona und Brust oder Keule mit Louis de Funès erinnert.

Eingangzitat:
Simon Strauss. Sieben Nächte. Aufbau Verlag, Berlin, 4. Aufl., 2017. S.42

Sigmund Freud: Studienausgarbe. Die Traumdeutung. Fischer Verlag, Frankfurt a.M, 2000, limitierte Sonderausgabe.
* Freud S.239 Kursiv und Klammer übernommen

6 Kommentare

  1. Lieber Urs,
    nee, mit einer eigenen 50’50-Serie wird es definitiv nix, ich hechele ja schon als Leserin drei, vier Tage hinterher. Lächle heute noch über dein 2007, von wegen „damals war Berlin noch unversehrt“, das hätte ich eher über 1997 gesagt, gleiche Israel-Erinnerungen ab, meine sind wieder zehn Jahre älter, liege gestern mit dir auf dem Fußboden und spüre mein Kreuz.
    Helfe ich Freud bei der Traumdeutung mal aus: Du hast Angst, dass da nichts bleibt, was dich nährt, und du am Ende noch selbst dafür verantwortlich bist. Wenn man dann bedenkt, dass manche Kulturen dem Lauch eine aphrodisierende Wirkung nachsagen, dann fürchtest du, eine bestimmte Nahrung zu verlieren.
    Hab ein entspanntes Wochenende, vielleicht mit Sellerie, auch sehr gut für das häusliche Glück, wie meine Oma zu sagen pflegte.
    LG Anne

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    • Liebe Anne
      Aber irgendeinen öffentlichen Passionsweg zur Big Five musst Du uns doch anbieten, Novice! Die tägliche Variante ist Hardcore und nur machbar, weil ich alleine lebe und ergo fürchte, dass mir die Suppe ausgeht. Also koch mir eine schriftliche Consommé, bittebitte.
      Ein Sellerie liegt bereit. Ich hoffe, Oma meinte nicht Stangen- :-)
      Herzlich Grüße und ein schönes Wochenende, Urs
      PS: Jaja, die Berlin-Wahrnehmung wird übergeben wie Staffettenstäbe. Ich bin sicher, 2017er würden das gleich sagen wie Du und Ich.

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  2. Guten Morgen lieber Urs,
    ich mag deinen Einstieg in den Beitrag, das morgendliche Immergleiche, das sich derzeit wie die Ewigkeit anfühlt, die uns täglich als Murmeltier begrüßt und den Spiegel verhängt, die Dusche auf Endlos-Modus stellt, denn da ist es warm und voller Ideen und dann stellen wir die Dusche aus, es ist kalt und die Ideen verschwinden im Ausguss … Hatte Freud eine Idee zur Dusche?
    Herzliche Grüße zum Wochenende,
    Sabine

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    • Liebe Sabine
      Unter Freuds eigenen Träumen ist nichts zu finden (auch nichts zum Thema Waschen, Baden)
      In den Träumen anderer Personen finde ich auch nichts. Weder Bad noch Dusche scheinen Symbole. Im Namen- und Sachregister gibt es Einträge zu Bad Gastein, Bad Ischl und Bad Reichenhall, aber keine Dusche und nichts zu Waschen.
      Duschen ist also unbelastet, auch bei langem Duschen geraten wir nicht Verdacht einer Zwangsneurose. Denn Duschen waren damals noch nicht verbreitet und ergo nicht im Repertoire der Zwanghaften. Let’s shower! :-)
      Herzlich, Urs

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  3. Lieber Urs,
    jetzt melde ich mich doch mal als Küchenmarie zu Wort.
    Ich verfolge Deine Annäherung an Deinen 50. aufmerksam und mit leicht wehmütigem (Rück)Blick. Uns trennen fast 18 Jahre und de Zeiten,, die Du noch als Kind erlebt hast, habe ich schon als Erwachsene durchlitten. Nicht nur das ergibt andere Blickwinkel, sondern auch die unterschiedlichen Umstände des Aufwachsens. Aber alles, was von mir aus dazu zu sagen wäre, kam mir angesichts Deiner Wortwucht und Erzählkraft banal vor. Deshalb habe ich bisher geschwiegen und Deine Erzählungen aus vergangenen und zukünftigen Zeiten einfach nur genossen. Gefreut habe ich mich natürlich, als mein Küchenblog von Dir erwähnt wurde.
    Die Suppe mit Bezug zu Herrn Freud, lockt mich nun aber doch an die Tastatur. Ich habe versucht heraus zu finden, was Herr Freud denn so gegessen hat. Der ORF behauptet, es seien italienische Artischocken, gekochtes Rindfleisch und Zwiebelfleisch (https://wiev1.orf.at/stories/105015) gewesen. Beim Fleisch zeigt sich halt der Österreicher. Was es mit den Artischocken auf sich hat, weiß ich nicht. Hat er sie ordentlich in Sauce getunkt und dann ausgezutzelt? Das spräche für sinnliches Vergnügen…
    So langsam geht es in die Zielgerade für Dich. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung bis zum 25. Januar. Das ist doch eigentlich auch ein tolles Datum, um den 50. zu feiern,
    Liebe Grüße
    Anne

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    • Liebe Anne
      Es freut mich sehr, hast Du den freudschen Faden aufgenommen! Ich dachte schon, dass die Küchenmarie dazu doch sicher was zu sagen hat :-) Artischocken also. Hmmmm. Ich habe mal gehört, die wirkten aphrodisierend?
      Ich freue mich, Dich als Leserin zu haben und grüße nach FFM, herzlich, Urs

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