7) Jetzt schreien halt die Tänzer

Serie Eldorado

Wie das Eldorado Volksbühne Berlin die Saison auf Tempelhof mit viel Geschrei eröffnet.

Belgrad 2015
© Vreni Spieser. Belgrad, im September 2015.

Gestern Donnerstag im Hangar 5 auf Tempelhof, der neuen Spielstätte der „Volksbühne Berlin“: 24 Tänzer*innen veranstalten einen Menschenzoo, sie rennen auf einem verspiegelten Tanzteppich wild gestikulierend kreuz und quer, sie stoßen Worte aus – aufgrund der schlechten Akustik schwer verständlich – zeigen Pobacken, entblößen Brüste, rennen ins Publikum, schrecken nicht davor zurück die Brüste meiner Begleiterin zu befummeln, machen animalische Geräusche vom Affen bis zum Vogel.

Eine Tänzerin, die gerade noch eine Geburt andeutete, (sie zieht sich auch den Slip runter) schreit: „La chute du mur de Berlin“ (der Mauerfall). Dazu macht sie eine Hammer-und-Meissel-Geste. Die Tänzer werden immer spastischer, das Geschrei steigert sich und endet erst nach qualvollen Minuten des Fremdschämens. Das Affentheater ist zum Glück nach einer Stunde vorbei.

Jetzt brodelt der Ärger. Nun schreien und ficken in der Volksbühne also die Tänzer. Mit solch ernsthaftem Pathos, dass es zum Davonlaufen ist.

Stinkefinger

Was für eine verpasste Chance! Der neue Indendant Chris Dercon hätte mit Augenzwinkern seinen Kritikern den Stinkefinger zeigen können. Wenn der Choreograph von „10000 Gesten“, Boris Charmatz, das Stück frech und vor allem ironisch gestaltet hätte, vielleicht sogar als Parodie: seht her, wie altbacken unmotiviertes Geschrei, beliebige Nacktheit und angedeuteter Sex auf einer Berliner Bühne wirkt! Das mit Gesten zu tun, also nonverbaler Kommunikation, hätte das Ende der Ära Castorf auf humorvolle Art mit künstlerischen Mitteln besiegelt. Stattdessen liefert Dercon seinen Kritikern mit dieser langweiligen Premiere eine Steilvorlage.

Duvel
Der Teufel steckt im Bier.

Also biedert er sich dem Publikum an. Nicht den Anhängern Castorfs, die fuchteln noch mit Giftspritzen. „Ganz Berlin tanzt auf Tempelhof“, so das Motto der Eröffnung letzten Sonntag (10.9.). Da waren angeblich 12’000 Besucher*innen anwesend, viele vermutlich, weil sie das Gebäude lockte und die Gelegenheit, ein Bier zu trinken. Dazu wurde Tanz in Häppchen serviert. Selbst Anne Teresa De Keersmaeker war sich nicht zu Schade, ein bisschen „Fase“ vorzuführen und damit unfreiwillig zu demonstrieren, dass dieses mittlerweile 35-jährige Stück, umrundet von Menschentrauben auf einem Flugfeld, niemals diesen Sog entwickelt, der sich nur einstellen kann, wenn Wiederholung und Variation Zeit auf einer minimalistisch-kühlen Bühne gegeben wird.

Vielleicht war die Idee, dass das Publikum mittanzt. Jedenfalls steht im Veranstaltungstext auf Facebook :„Es ist die Einladung an eine Stadt, sich selbst zu performen.“ Da ist abgedroschener Hedonismus und billige Anbiederung. Als ob Stadtbewohner sich nicht sowieso immer selbst zur Schau stellten, beispielsweise beim Flanieren.

Immer dieses Neue

Vollmundig nimmt sich Chris Dercon vor, das Theater neu zu erfinden, ja sogar „etwas zu erfinden, das noch keinen Namen hat.“ (Die Zeit, 21/2017) Dazu muss wohl zuerst in die Mottenkiste gegriffen werden. Jedenfalls äußerte sich die Programmchefin Mariette Piekenbrock in der FAZ so: „Überall begegnen wir der kultischen Verehrung des Neuen, die oft mit einem Verlust des Gestern einhergeht. Dagegen wollen wir uns explizit positionieren, indem wir fragen, welche Positionen der klassischen Avantgarde für unsere Künstler und für unser Publikum eine besondere Rolle spielen könnten.“

Kein Wunder erregen sich die Verehrer der alten Volksbühne so sehr über das Ende ihres Eldorados. Ausgerechnet das Team, welches die Volksbühne übernommen hat, beklagt den Verlust des Gestern. Und geht die Zukunft didaktisch an.

Spartensuppe

Zu erwarten ist eine kultische Verehrung des Spartenübergreifenden. Von Ahrenshoop bis Zwickau wird behauptet, dass sich die Sparten auflösen (u.a. im Programmheft der Volksbühne). Das ist falsch und getragen von der Müdigkeit derer, die ihrer Disziplinen überdrüssig sind. So lässt sich ein Kurator eben von der Tate Modern an ein Theater berufen. Wenn Tänzer nicht mehr tanzen, Musiker nicht mehr musizieren, Schauspieler nicht mehr spielen, Maler nicht mehr malen, Sänger nicht mehr singen wollen, performen sie halt. Das Resultat lässt sich überall besichtigen. Im Rahmen von inflationären Festivals dilettieren Künstler*innen vor und mit dem Publikum. Was durchaus seine Berechtigung hat, weil der Kunstbegriff eine Erweiterung erfährt (resp. erfuhr, denn neu ist das nicht) und aus der Zusammenarbeit der Künste im besten Fall tatsächlich neue Erkenntnisse und Ästhetiken resultieren. Das darf aber nicht zur Strategie werden. Denn es werden nie alle alles können, auch wenn sie es meinen.

Eine Möglichkeit wäre gewesen, aus Tempelhof eine Spielstätte zu machen, wo sich die zahlreichen Platzhirsche tummeln könnten. Dafür als Intendanten einen Kuratoren zu berufen, wäre nicht falsch. Auch weil dieser selbst nicht künstlerisch tätig ist, hat er eine genügend distanzierte Position, um zwischen den Sparten zu vermitteln.
Die Volksbühne hingegen wäre besser einem jungen, bisher institutionsfernen Kollektiv überlassen worden, das sich dort austoben und beweisen könnte.

Der Saisonstart der neuen Intendanz lässt leider nicht viel Gutes ahnen. Doch geben wir dem Erfinder des namenlosen Neuen ein Chance. Wir sollten uns nicht verschließen, sondern kritisch beobachten, was er darbieten lässt. In den Sitzreihen, nicht auf social media.

Und erinnern uns wehmütig, aber nicht hasserfüllt, an die alten Zeiten, als Castorf noch gut war.

Affiche
Wenn ich zum Fenster hinaus schaue, werde ich befragt.

 

7 Kommentare

  1. Lieber Urs,

    das ist ja wohl der nackte Kulturhorror! Ich musste ziemlich schmunzeln bei deinem scharfsinnigen Beitrag.
    „Wenn Tänzer nicht mehr tanzen, Musiker nicht mehr musizieren, Schauspieler nicht mehr spielen, Maler nicht mehr malen, Sänger nicht mehr singen wollen, performen sie halt.“
    Ein Jammerspiel!

    Ich war kürzlich in der Komischen Oper und habe dort eine tolle Darbietung von Strawinsky „Petruschka“ gesehen – hier wurden mehrere Sparten (Klassische Musik, Akrobatik und Film – bei Ravels „L’Enfant et les Sortilèges“ kam noch Gesang dazu) sehr gelungen zu einem Gesamtkunstwerk verbunden – aber jeder Künstler ist in „seiner“ Sparte geblieben und hat sein Bestes gezeigt.
    https://www.komische-oper-berlin.de/programm/a-z/petruschka-lenfant-et-les-sortileges/

    Freut mich aber, dass der künstlerische Tiefflieger auf dem Tempelhofer Flughafen deine Neugier für die Theaterszene nicht zur Notlandung gezwungen hat. Bin gespannt auf deine weiteren Feldberichte aus dem Kulturleben.

    Herzliche Grüße
    Ulrike

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  2. Lieber Urs,

    wie heißt es doch in diesem alten Sprichwort: „Schuster bleib bei Deinen Leisten“. Das gilt wohl gestern wie heute und sei es für Handwerker oder auch Künstler. Eigentlich deprimierend, wenn alle meinen, alles machen zu können und kein Platz mehr für Besonderheit ist. Lieber Urs,ich glaube, Du hast mal wieder den Finger in eine der Wunden der Zeit gelegt.
    Liebe Grüße
    Anne

    Gefällt 1 Person

  3. Lieber Urs,

    endlich habe ich mal wieder die Gelegenheit, ein bissl blogzuflanieren und siehe da, mich erwartet ein Urs’scher Lektüreschmaus, kritisch, bissig, pointiert, aber eben nicht herablassend oder blassiert. Das finde ich immer wieder toll bei dir und besonders in diesem Satz wird das mehr als deutlich: „Wir sollten uns nicht verschließen, sondern kritisch beobachten, was er darbieten lässt. In den Sitzreihen, nicht auf social media.“
    Vielen Dank dafür!
    lg. mo…

    Gefällt 1 Person

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