4) In der Wanne mit Ragnar

Sophia hat Sex mit Sergio. Bevor sie ein Vollbad einläßt steige ich selbst in die Wanne, höre Ragnar Kjartansson und vergieße ein Tränchen.

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© Massimo Spada. Studio preparatorio per immagine.

In einer Mittagspause anno 2012 besuchte ich die Ausstellung von Ragnar Kjartansson im Migros Museum für Gegenwartskunst, wo ich früher selbst arbeitete. Ich betrat die Video-Installation „The Visitors“ und sah Kjartansson in der Wanne mit einer Gitarre und seine Mitmusiker auf acht weiteren Projektionen im Raum. Die Musik steigerte sich in ein Crescendo und ich war tief ergriffen, eine Seelenwärme durchströmte mich. Das ist, warum ich Kunst liebe, dachte ich. Dieser Schönheitstraum und Schönheits-Raum, den der Künstler öffnet. Dieses hippieske Setting, das gemeinsame Musizieren in einer herrschaftlichen, etwas heruntergekommenen Villa auf dem Land.
Als ich Massimos viertes Bild erhalte, denke ich sofort an Kjartansson in der Wanne. Ich lasse mir also ein Bad ein und höre „The Visitors“:

Once again / I fall into / my feminine ways.
There are stars exploding around you /
And there is nothing / nothing you can do.
Ragnar Kjartansson & The All Star Band

Tatsächlich verdrücke ich ein paar Tränen. Diese Musik geht direkt ins Herz, rührt es an, bewegt etwas, das wohl irgendwo im Unterbewussten liegt. Gleichzeitig fühle ich mich aufgehoben, ja, verstanden. Ich bin Teil dieser Kraft, die durch diese Kunst strömt.
Später lege ich im Wohnzimmer „Der Klang der Offenbarung des Göttlichen“ auf den Plattenteller, eine Oper von Kjartan Sveinsson zu der Ragnar Kjartansson vier Bühnenbilder gestaltet hat. Wie saß ich damals staunend in der Volksbühne, abermals ergriffen von dieser Sehnsucht nach Schönheit, von der das Werk handelt. Erfürchtig, andächtig, demütig auch.

Die Ethik ist transzendental.
(Ehtik und Ästhetik sind Eins.)
Wittgenstein, Tractatus (Punkt 6.421)

Das Wesen des Menschen offenbart sich in der Kunst, in seiner Fähigkeit, der Welt schöpferisch etwas hinzu zu fügen. Das, was den Menschen zum Menschen macht, hat mit den Höhlenzeichnungen von Lascaux angefangen und wird ihn bis zu seinem Ende antreiben.

Am nächsten Morgen lese ich in der Zeit den Artikel „Reform der Intelligenz“ von Botho Strauß. Er schreibt: „Was der Romantiker gegen die beginnende Industrieepoche war, muss der poetische Myste gegen die amusische Intellektualität der Wissensgesellschaft sein“ und schließt mit: „(…) im Zynismus steckt ja eine enorme Kraft, die restlos mit sich selbt zufrieden ist. Die Selbstzufriedenheitsschubkraft also gilt es zu nutzen und im Handumdrehen in königliche Demut, in Staunen, Entdecken und Bewundern zu transformieren. Ein starker kleiner Transformator muss man sein. Das wäre ein Anfang.“
Und siehe da, ich liege mit meiner Schwärmerei nicht ganz daneben. Allerdings bin ich mit Strauß, der im Artikel enorm viele Gedanken äußert, nicht in allen Punkten einig. Weiter vorne fragt er: „Weshalb ist die Malerei im 20. Jahrhundert abstrakt geworden? Weil sie das Soziale, dem Figürlichen angebunden, nicht mehr ertragen konnte.“ (Alle Zitate: Botho Strauß, Die Zeit, Nr.14, 30.3.2017) Womöglich ist diese These nicht ganz falsch. Mir scheint aber wichtiger, dass die abstrakte Malerei auch eine Abwendung von der Narration hin zum Gestischen beförderte. Damit wurde die Künstlerpersönlichkeit mehr denn je in den Vordergund gerückt. Ich denke u.a. an Jackson Pollok oder an Yves Klein, mit seinem „International Klein Blue“ und später die Minimal-Art eines Carl Andre, beispielsweise. Was wären deren Werke ohne die Aura der (vermeintlich) authentischen Geste?
In Museen und Galerien mag das Soziale heute vielleicht weniger im Bild zu sehen sein, dafür umso mehr vor dem Bild, im Getümmel der Vernissagen oder in überfüllten Sonderausstellungen.
Das Soziale gehört zurück ins Kunstwerk! Wenden wir uns ab vom Genie-Kult hin zu kollektiven Strategien. Ersterer dient sowieso nur als Vorlage für den kreativen Imperativ der orientierungslos gewordenen Individualisten im neoliberalen System.
Im Wir liegt die Vielstimmigkeit, trotz allem papageienhaften. Sich darin zurecht zu finden ist eine der größten Herausforderungen. (Assoziatives Denken hilft.)

Endlich steigen wir nun mit Sophia in die Wanne
Die Eröffnung mit Sergio war ein voller Erfolg. Auch weil Sophia gut vernetzt ist. Sogar ein Kurator eines bedeutenden Fotomuseums in der Schweiz war anwesend. Der lud Sergio ein, ihm in den kommenden Tagen sein Portfolio zu zeigen.
Nach der Vernissage war Sergio zu Sophias Verblüffung ziemlich kleinlaut. „Was ist los, Tesoro, es lief doch alles wunderbar!“, sagte sie. Sergio brummelte Unverständliches in seinen à la mode gepflegten Vollbart. Sophia schüttelte nur den Kopf, sie kannte die Männer, letztlich halt doch alles kleine Macker. Die vertragen es einfach nicht, wenn eine Frau ihnen hilft oder noch schlimmer, erfolgreicher ist als sie, dachte die Kuratorin.
Umso mehr musste Sergio später im Bett seine Männlichkeit zur Schau stellen. Sophia war dieser Darbietung ganz und gar nicht abgeneigt und gab die Zügel gerne aus der Hand. Von multiplen Orgasmen flachgelegt, schlief sie beim ersten Licht des Morgens ein.
Am nächsten Tag, Sergio ist schon wieder unterwegs nach Mailand, lässt sich die Kuratorin in ein Schaumbad gleiten, döst ein und träumt von Joan Collins.

12 Kommentare

  1. Lieber Urs,
    zunächst das Hohe Lied auf die Kunst und am Ende nicht nur mit Sophia, sondern auch noch mit Joan Collins in der Wanne. Dazwischen ein kleiner Ausflug ins Philosophische. Dein Beitrag ist Unterhaltung auf hohem Niveau und schlägt ungeahnte Bögen. Das gefällt mir.
    Liebe Grüße
    Anne

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  2. Lieber Urs,

    das Wortspiel Kunsttraum und Kunst-Raum hat mich gepackt, ansonsten schließe ich mich Annes Kommentar an. Kunst berührt Seele, das ist für mich ein Geschenk.

    Alles liebe

    Hedda

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  3. Lieber Urs,

    ich musste herzhaft lachen beim Video von Joan Collins. Ich glaube, da habe ich echt was verpasst, dass ich nie Dallas geschaut habe. Wunderbar, wie Du mit einem Augenzwinkern auch der Trivialität Raum gibst.

    Umso tiefgründiger sind deine Gedanken zur Entwicklung der Kunsttrends und zum Künstlerkult. Die Schattenwelt von Kommerz und Galerieschickeria habe ich aus eigener Anschauung bisher nicht kennengelernt.
    Gestern habe ich mir im Dresdner Albertinum die „Neuen Meister“ angesehen. Ob es nun ein romantisches Landschaftsbild von Caspar David Friedrich, das Triptychon „Der Krieg“ von Otto Dix oder ein Abstraktes Bild von Gerhard Richter ist – mich fasziniert die Wirkung dieser Werke auf meine Sinne, meine Fantasie, mein Gefühl, meinen Verstand. Ohne dass ich bewerten könnte, oder wollte, welches Bild „wertvoller“ oder „besser“ ist.
    Selbst bei modernen Werken, wie eine Holzkonstruktion an einer Wand (die mich an eine Auslage im Baumarkt erinnert), vor der ich ziemlich ratlos stehe, regt zumindest meine Gedanken an.

    Die Wahrnehmung eines Kunstwerks ist immer ein sehr persönliches und subjektives Erlebnis für den Betrachter. Genauso, wie bei dir beim Anschauen des Wannen-Fotos von Massimo sofort Erinnerungen und Musik in dir wach wurden.
    Das ist ja gerade das Schöne und Wertvolle an Kunst.

    Herzliche Grüße
    Ulrike

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    • Liebe Ulrike
      Danke für Deine spannenden Gedanken. Ich stelle immer wieder fest, dass ich in Museen länger vor Klassikern verweile. Ob das mit dem Älterwerden zu tun hat? Aber Baumarkt-Assemblagen können es halt nur schwer mit einem Dix aufnehmen, oder?
      Herzlich, Urs

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  4. Lieber Urs, ja, wer kann es schon mit einem Dix aufnehmen, den habe ich unlängst in Düsseldorf gesehen und habe ein Bild gefunden, das mich mehr als fasziniert hat und genau da passiert es: Gänsehaut und etwas berührt mich auf eine Art, was nur Kunst kann, mich ganz persönlich zutiefst anzurühren …
    Grins, aber die Wannenszene hat es auch geschafft, anders, laut gelacht habe ich und leise geflucht, dass in meinem Apartment unter dem Dach kein Platz für eine Wann ist, obwohl, es gibt ja aufblasbare …:-)
    Viele Grüße,
    Sabine

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    • Liebe Sabine,
      Wenn ich die Wahl habe zwischen einer Wohnung mit Wanne oder einer mit Balkon, ich würde mich immer für die Wanne entscheiden. Die Winter sind lang :-)
      Herzlich, Urs

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  5. Teufel noch eins, sowas ist mir auch selten passiert: Dieser Wasserhahn oder Wasserknopf oder wie auch immer dieses Wasseranmachdrehding heißt, ganz oben da, von Massimo Spada – das wirkt auf mich irgendwie, äh, so „sinnlich“ – und das hat wirklich rein gar nichts mit der Frauenhand davor zu tun… Ich bin verdutzt.

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