Unbeweglich, mit gespreizten Beinen stand er da und träumte vor sich hin. Sein zu Boden gesenkter Blick drang durch das gräuliche Geflocke des Nebels und nahm das schmierige, schwarze Kaigemäuer zu seinen Füßen auf. Langsam, aber ohne methodisches Vorgehen, prüfte er Marios Besonderheiten. Seine Hände. Die Kurve, die sich von der Daumenspitze bis zum Gipfel des Zeigefinders schwingt. Er hatte sie lange betrachtet. Die Dichte der Falten. Seine breiten Schultern. Seine Gleichgültigkeit. Seine blonden Haare. Die blauen Augen. Norberts Schnurrbart. Sein runder, glänzender Kahlkopf. Dann wieder Mario. Der eine Daumennagel war ganz schwarz, ein sehr schönes Schwarz war es, es sah wie lackiert aus. Es gibt keine schwarze Blume, aber dieser schwarze Nagel an seinem zerquetschten Daumen erinnerte an eine Blume.
Jean Genet, Querelle
Im Buch steht außerdem: „Der Eigentümer dieses Buches verpflichtet sich, den Band verschlossen aufzubewahren und Jugendlichen nicht zugänglich zu machen.“ – 01416/7 –
50×50, Tag 41
50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).
Was bisher geschah: Mir erschien im Traum Lauchsuppe und musste Freud befragen, was das wohl bedeuten wolle. Eine Antwort wusste nur Miss Novice. Cum-Ex-und-Hopp verspies ich Reiche.
(Vortag: Eat the Rich / Folgetag: Gedanken: besetzt)
Happy Together
2011
Zu meinem Vierzigsten wollte ich mir eine Japanreise schenken, und freute mich schon auf die Kirschblüte in Kyoto. Dann bebte in Japan die Erde und Radioaktivität verseuchte nicht nur meine Reisepläne, sondern verstrahlte Tausende und die Weltmeere.
Ich war nicht abgebrüht genug, trotzdem zu fliegen. Die Nonchalance gegenüber der Kosmopolitik ließ mich Ende Jahr in die andere Richtung, nach Argentinien reisen, wo ich mit dem Geld, das in Japan wohl knapp drei Wochen gereicht hätte, gleich neun Wochen verbringen konnte. Buenos Aires, Patagonien und ganz unten der kalbende Gletscher Perito Moreno standen schon lange weit oben auf meiner Once-In-A-Lifetime-Liste. Vielleicht wegen den Filmen El Viaje (1992) und Happy Together (1997), ganz sicher nicht wegen Evita, vielmehr wegen diesen leeren Landschaften und natürlich der Metropole Buenos Aires, von deren Architektur ich mich überwältigen lassen wollte, bombastischer als Madrid, Paris und London zusammen. Und natürlich wollte ich dort einmal Tango tanzen.
Querelle
Jeweils Dienstags gab es eine queere Milonga und wie üblich eine Stunde davor einen Kurs für Anfänger:innen. Im Grundschritt ging’s ein paar Runden, führend und geführt (die Rollen bei queerem Tango sind flexibel), schon kamen die Tangueros und Tangueras, schon wurde ich, schüchtern am Rande sitzend von einem Berg von Mann gefragt: Bailas? No, no, no, gab ich erschrocken zurück, es la prima vez, auch spanisch probierend, hatte aber keine Chance und wurde zu drei Stücken rumgewirbelt, dachte, angesichts des glatzköpfigen Hünen, an Matrosen und wie sie in den Anfängen unter sich tanzten, sich vorführten, was sie mit einer Geliebten täten, woraus sich letztlich Tango entwickelt hatte. Ich dachte an Jean Genet, an Querelle und natürlich an Fassbinder.
Anwesend war auch die Tangotänzerin und -lehrerin Astrid Weiske. Alle sagten zu mir, oh, you must meet her, she’s also from Berlin! Wir verstanden uns auf Anhieb. Ich erzählte ihr von meinen Patagonien-Plänen, sie wollte da auch hin, wir verabredeten uns auf einen Kaffee und kurz darauf saßen wir zusammen in einem Bus nach Bariloche, der Schweiz Patagoniens.
Die Reisedetails erzähle ich hier nicht nach, weil ich sie in einem Artikel für das Magazin Queer Travel zusammengefasst habe:


Zeitbewusstsein
In meinen Erinnerungen kreist immer noch der Albatross über mir, als ich am Fuß des Fitz Roy lag, ich sah ihm in die Augen. Unvergessen sind die Pinguine, die in einer gigantischen Kolonie unweit der Peninsula Valdez herumwatschelten. Auch das Knacken und Krachen, das Tosen der Gletscher klingt immer noch nach. Es war eine dieser Reisen, auf der ich mich im Paradies wähnte, ein Dauerglück und Dauerweinen, ein Schwärmen und Trauern, nichts ist klein auf dieser Erde, nur Du.
Ich habe das viel besprochene Buch Timefulness, das 2020 unter dem Titel Zeitbewusstsein herauskam, noch nicht gelesen, in dem es um für Menschen kaum fassbare geologische Zeiträume geht. In Patagonien hatte ich eine klitzekleine Ahnung davon, was solche Zeitspannen bedeuten; was eine Ewigkeit sein könnte. Ich hatte das erste Mal nichts gedacht, sondern, umgeben von Überwältigung, nur gestaunt, mich an einen Stein gepresst und die Rotation und Revolution gespürt, das Magma tief unten und die Platten, wie sie schieben.
Kiffen und koksen im Maison Du Retro-Futur
Einen Platten hat Max nicht, muss aber trotzdem auf den Bus und reist mit uns zurück nach Buenos Aires.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. (Unveränderter Abschnitt aus einem Romanentwurf, den ich 2018 als Prüfungsleistung für das Modul Romanwerkstatt einreichen musste.)
Nicht allzu lange her latschte er durch Buenos Aires die Bushaltestelle suchend, mitten in einer feuchtwarmen Nacht, nach einer Party und vielen Drinks, gar nicht so einfach, alles Einbahnstraßen, nie führte dieselbe zurück. Er blieb bei jedem Laternenpfosten stehen, als wäre er ein streunender Hund, denn da klebten die Liniennummern drauf, alle möglichen, nur nicht die 29.
Damals auf dieser nächtlichen Avenida, auf diesem anderen Kontinent, kam ihm ein Typ mit nacktem Oberkörper entgegen, er schaute ihm nach. Blickkontakt. Der sieht gut aus, oh, der sieht richtig gut aus. Der Schöne blieb tatsächlich stehen, drehte sich um und kam zurück, coolen Schrittes, hola, que tal?
Hi, I’m looking for the bus stop, what are you doing here, topless, in the middle of the night?
Ich bin zu Hause am Koksen und Kiffen und gehe zum Kiosk, Biere kaufen.
Koksen und Kiffen, hallte es in Max’ Kopf. Krass. Passt. Kann ich Dich begleiten? Gegenseitiges Mustern, keiner roch nach Gefahr oder Psycho. Lächeln.
Ist das hier ein Film, dachte er, dieser kleine Latino ist sexy, was für ein Body, uff.
Sie kauften ein paar Flaschen und gingen ins Condo des Typen. Unaufgeräumte Bude, aber kein Junkieloch, zwei Yamaha-Keyboards, I’m a composer, Musicals. I can play you some tunes. Tat es und Maximilian wusste bald nicht mehr, wie unwirklich er die Situation bewerten sollte. Er mochte keine Musicals, aber der Typ war toll. Stellte sich hinter den Spielenden und strich über dessen Rücken, umschlang ihn, spürte die Vibration des singenden Körpers, bis der Musiker auf dem Klavierschemel herumschwang und sie sich küssten.
Nach einigen Lines und Joints – das Koks deutlich stärker als er es kannte, das Zeug haute rein, klar, das Anbaugebiet war viel näher, der Stoff musste nicht kondomverpackt rektal über Ozeane geschmuggelt werden und wurde deshalb wohl deutlich weniger gestreckt als in Europa – nach einigen Orgasmen, Keyboard, Teppich, Sofa, Dusche, Bett, Balkon, mondlose Nacht, von hinten, von vorne, stehend, liegend, kniend, Coffee&Cigarettes, ließ er sich genau erklären wo der Bus abfährt, küsste den Künstler auf die Wange, fuhr mit dem wackligen Aufzug nach unten, trat auf die Straße, in die Sonne, dieses zufriedene Grinsen im Gesicht, das er so sehr vermisst hatte.
Eingangszitat:
Jean Genet: Querelle. Linzenzausgabe für die Mitglieder des Deutschen Bücherbundes Stuttgart Hamburg München. Copyright: Rowohlt, Hamburg, 1965. S.52f
Auf Seite 4 steht: „Der Eigentümer dieses Buches verpflichtet sich, den Band verschlossen aufzubewahren und Jugendlichen nicht zugänglich zu machen.“ – 01416/7 –