12) Ain’t Got No, I Got Life

Über die Freiheit, die Kultur und die Patchworkfamilie.

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© Massimo Spada. Studio preparatorio per immagine.

Letztlich geht es immer um die Freiheit, die auf dem Spiel steht.
Die meisten Menschen haben weniger Angst vor deren Verlust, als vor der Freiheit selbst. Sie vermuten auf dem weiten Feld hinter jedem Busch Löwen, oder sie irren durch ein Dickicht und bleiben auf der Suche nach Glück im Dornengestrüpp hängen, das Dornröschens Schloss umrankt.
Der Kapitalismus versteht es meisterhaft, den Menschen Freiheit vorzugaukeln und von der Tatsache abzulenken, dass die meisten nur wählen können, ob sie bis zum Hals oder bis zur Brust in der Scheiße stecken.

Ich bin überzeugt, dass die Angst vor der Freiheit durch allen zugängliche Kulturangebote gemildert werden kann. Anstatt die Verantwortung an einen Schöpfer zu delegieren, oder dem Goldenen Kalb zu huldigen, vertraue ich auf die schöpferische Kraft, die in uns allen steckt und uns zu dem macht was wir sind: Menschen.
Leider bilden die Schulen vorwiegend Einzelkämpfer für den Arbeitsmarkt aus. Dabei stehen wir erstmals vor der realen Möglichkeit weniger Lohnarbeit verrichten zu müssen, auch dank der digitalen Revolution. Es ist sogar höchst unwahrscheinlich, dass wir in Zukunft alle Vollzeit arbeiten können. Die gewonnene Zeit wäre mit Kunst sinnvoll gestaltbar. Natürlich kann niemand zu Kreativität gezwungen werden und es geht nicht darum, dass wir alle in reformpädagogischen Schulen unsere Namen tanzen lernen. Aber es muss sinnvolle Antworten darauf und Vorbilder dafür geben, was wir mit unserer Lebenszeit anfangen könnten. Angst schürende Politiker helfen nicht weiter.

Wir hören lieber Nina Simone „Ain’t Got No, I Got Life“ singen.

Fast Forward

Familie ist, wer aus dem gleichen Kühlschrank isst.

Anna-Sophia steht mir ihren Freundinnen tuschelnd und kichernd vor dem Schulhaus. Gleich wird Giancarlo, der süßeste Ragazzo von allen durch die Türe treten. Die Mädchen prüfen am Handy ihren Lidstrich, proben einen schmachtenden Blick und halten sich bereit, im richtigen Moment neckisch die Haare in den Nacken zu streichen. Als Giancarlo erscheint, werfen sich die nervösen Schülerinnen in die eingeübten Posen, werden aber unterbrochen von einer laut quakenden Hupe und quietschenden Bremsen. Alle drehen den Kopf zur Straße. In einem vorsintflutlichen hellblauen VW-Bus sitzend winkend Horst, Francesca, Paolo und Anna-Sophias kleiner Halbbruder Luigi. „Perfektes Timing“, nervt sie sich gekünstelt, denn der Auftritt der Familienbande bleibt nicht ohne Wirkung auf die Freundinnen und Giancarlo. Die würden auch lieber mit so coolen Erwachsenen ins Wochenende fahren als mit ihren laaaaangweiligen Eltern. Anna-Sophia wirft einen kecken Blick Richtung Giancarlo, errötet, als dieser ihr zuwinkt, steigt ein und ruft ihren Freundinnen ein etwas zu lautes „Ciao“ zu.

Sergio und Sophia haben sich ein Wochenende zu zweit gewünscht. Während die anderen mit den Kindern im Landhaus in Ostia sind, verbringen sie es in Berlin, auf alte Zeiten. Sie tanzen sich die Nächte um die Ohren, küssen Männer und Frauen, frühstücken ausgiebig wie die Berliner mitten am Tag, besuchen Ausstellungen und treffen viele ihrer Freunde, die vor Jahren in die Stadt gezogen waren.
Im Flieger zurück nimmt Sergio Sophias Hand. Sie lächeln sich an.
Vor dem Haus auf dem römischen Campo de’ Fiori angekommen, lässt Sergio die Reisetasche fallen, packt Sophia um die Hüfte, hebt sie hoch und wirbelt mit ihr im Kreis.
Eine Gruppe deutscher Touristen denkt: „Ach, diese Italiener!“

Zum Schluss tanzen wir mit Scott Matthew und träumen von der Liebe.

Danksagung

Danke, lieber Massimo, dass Du Dich auf diesen Dialog eingelassen hast und mich mit Deinen tollen Fotografien zu vielen Gedanken angeregt hast. Un forte abbraccio!
Danke, liebe Leser*innen, für’s Dranbleiben und für Eure motivierenden Kommentare.
(Nach einer kleinen Pause wird es mit etwas Anderem weiter gehen, versprochen!)

19 Kommentare

  1. Lieber Urs,
    da ist sie die Freiheit, die wir oft suchen und doch in der Künstlerin/dem Künstler in uns grenzenlos entdecken können, so oder so, nicht immer geht das ohne Schrecken und mir hilft da die Nacht, in der Freiheit der Nacht erlebe ich genau das und Grenzen des Tages im Licht bleiben im Schatten …
    Ich mag den Kühlschrank in schwarz-weiß, ich mag den alten VW-Bus, mit dem Anna-Sophia von der Schule abgeholt wird und mit dem ich selbst als Mia in Iserlohn gestrandet bin und ich werde sie alle vermissen und hoffentlich irgendwann noch einmal lesend zu sehen bekommen.
    Danke für derat beREICHernde 12 Wochen,
    Mia

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  2. Ach lieber Urs, ich werde sie vermissen, diese wilde wahnsinnige Liebe zwischen Sophia und Sergio sowie deine Achterbahnfahrten durchs kulturelle und politische Zeitgeschehen. Danke, dass du uns zum Abschluss eine Utopie schenkst! Gruß an die glückliche Familie, Amy.

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  3. Lieber Urs,
    och nee, 12 Wochen sind schon um? Das ging so schnell und könnte auch noch ein bisschen so weiter gehen. Ich bleibe natürlich erstmal am Kühlschrankinhalt hängen. Die Tonic-Fläschchen gefallen mir. Da wird es doch irgendwo einen Gin dazu geben. Aus Eiern, Käse(?) und Brocoli(?) könnte man einen Auflauf zaubern, wenn denn jemand noch ein bisschen Sahne oder Creme fraiche auftreibt. Und dann wäre die Familienidylle doch perfekt, wenn alle beim Auflauf nach einem Gin Tonic um den Küchentisch herumsitzen. Danke für eine inspirierende Reise durch Kunstwelten, Lebenswelten, Zeitwelten und das Universum
    Herzliche Grüße
    Anne

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  4. Lieber Urs,
    ich teile deine Sicht auf den kreativen Ausdruck als etwas, das jeder Mensch braucht und leider zu oft unter die Räder gerät. Vielen Dank für die spannende und sehr bereichernde Weltreise der letzten 12 Wochen mit dir durch die Kulturlandschaften!
    Und wie schön, dass du uns zum Schluss eine positive Zukunftsvision der Patchworkfamilie von Sergio und Sophia, Horst, Francesca, Pedro, Anna-Sophia und Luigi schenkst. Ich sehe sie in ihrem VW-Bus bildhaft vor mir. „Familie ist, wer aus dem gleichen Kühlschrank isst.“
    Grazie mille!

    Vielen Dank auch an Massimo für seine inspirierenden Fotos!

    Herzliche Grüße
    Ulrike

    PS: Bin natürlich auch auf deine weiteren Blog-Texte gespannt.

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  5. Lieber Urs, da sieht man wieder mal, dass es nicht viele Wörter braucht: der erste Absatz ist eine so prägnante und kraftvolle Umschreibung unserer Gesellschaft — ich unterstreiche jeden Buchstaben. Danke!
    Fe.

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  6. Lieber Urs,
    vielen Dank für wunderbare 12 Wochen voller Poesie, Romantik, Tanz und kritischer wie heiterer Gedanken. Ein schönes Bild am Ende, das von einer Liebe zeugt, die nicht durch Besitzansprüche begrenzt ist…
    Der Gedanke anfangs, dass allen frei zugängliche Kultur/ Kunst die Angst vor der Freiheit mildern könnte, ein großartiger Anfang für ein wunderschönes Ende, das ja zum Glück nur eine neue Etappe einleitet. Ich nehm dich da beim Wort und freue mich auf Neues!
    lg. mo…

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