Urs, 12 Points

In letzter Zeit schmeckt der morgendliche Grüntee manchmal bitter. Nicht etwa, weil ich diesen zu heiß aufbrühte oder zu lange ziehen liesse, nein, es sind nie mehr als 80° und 2 Minuten.
Aber – fast wollte ich ‚Aufschlagen‘ schreiben – beim Anklicken eines Artikels auf faz.net wurde mir einmal mehr dystopisch zumute.
Unter dem Titel „Die Chinesen werden total überwacht – und finden es gut“ ist erschreckendes zu Lesen. Offenbar befürworten die Chinesen das neue ‚Sozialkreditsystem’, welches die Bürger*innen in mehr oder weniger vertrauenswürdig einteilt. Minuspunkte gibt es bei ’schlechtem‘ Pluspunkte bei ‚gutem‘ Verhalten. Fahrradfahren wird honoriert, ein Leihrad nach Gebrauch nicht abschließen gibt Abzug. Und schon kriegt man kein anständiges Hotelzimmer mehr, weil der Kontostand zu tief ist.
Da ruft mein apokalyptisches Ich, es sei doch bei uns nicht viel anders. Siehe Tripadvisor, siehe airbnb, siehe social media. Wie lange noch, fragt sich mein Ich-Ich, bis ich nach der Anzahl meiner Follower und deren Likes bewertet werde?

Whom do you know?

Tatsächlich geschah es, damals, nach dem Ende meines Kunstraums Substitut, als ich meinte, unbedingt eine Anstellung als Kurator finden zu müssen, dass ich in einem Bewerbungsgespräch gefragt wurde, wen ich kenne. Whom do you know? Mir blieb die Spucke weg.
Es hat eine Weile gedauert bis ich begriffen habe, dass es heutzutage beim Kuratieren nicht darum geht, was man macht, sondern mit wem man es macht. Hangle Dich entlang der Hitparade der angesagten Künstler (vorwiegend Männer) und sorge dafür, dass an der Vernissage möglichst viele auffällig gekleidete VIPs vor der Kunst rumstehen und ‚instagrammen‘. Übe Dich im Trommeln in alle digitalen Himmelsrichtungen, hechle jedem Like hinterher. Sei überall, ständig präsent.
Urs, 12 Points?

FUCK! (Minus 100)

Natürlich schaue ich nach jedem Post (ob Blog oder sonstwo) gierig auf die Klickzahlen. Natürlich will ich Euch, liebe Leser*innen, dazu bringen, meine Texte zu lesen und freue mich über Euer positives Feedback, natürlich brauche ich, wie alle Menschen, Aufmerksamkeit und Zuneigung.

Rübe

Beides hole ich mir nach wie vor am liebsten im realen Raum. Beispielsweise sonntagnachmittags an der Buttons im ://aboutblank, tanzend, trinkend, turtelnd.
Immer häufiger werde ich auf Parties mit großen, ungläubigen Augen angestarrt, wenn ich sage, ich hätte mein Handy nicht mit, wenn’s ums ‚adden‘ geht. So kürzlich, als ich mit einem besonders Hübschen zusammenstieß, schweissnass blieben wir aneinander kleben. Er folgte mir nicht nach Hause, dafür auf Instagram.
Ich gesellte mich zu seinen rund 17’000 Folgern. Let’s keep in touch…

So hält sie uns also in Trab, diese digitale Rübe. Vor lauter verlockendem Vordergrund kein Ziel in Sicht. Wir sind die Esel, die sich einspannen ließen.

Let Love In

Gerade wollte ich es ‚youtuben‘, das Stück „Do You Love Me (Part 2)“ von Nick Cave. Weil es so viel einfacher ist, ins Suchfenster zu tippen, statt mich zu bücken und meine Schallplatten zu durchblättern.
Die LP „Let Love In“ aus dem Jahr 1994 dreht sich…

Do You Love Me? (Part 2)

Onward! And Onward! And Onward I go
Where no man before could be bothered to go
Till the soles of my shoes are shot full of holes
And it’s all downhill with a bullet
This ramblin’ and rovin’ has taken it’s course
I’m grazing with the dinosaurs and the dear old horses
And the city streets crack and a great hole forces
Me down with my soapbox, my pulpit
The theatre ceiling is silver star-spangled
And the coins in my pocket go jingle-jangle

There’s a man in the theatre with girlish eyes
Who’s holding my childhood to ransom
On the screen there’s a death, there’s a rustle of cloth
And a sickly voice calling me handsome
There’s a man in the theatre with sly girlish eyes
On the screen there’s an ape, a gorilla
There’s a groan, there’s a cough, there’s a rustle of cloth
And a voice that stinks of death and vanilla
This is a secret, mauled and mangled
And the coins in my pocket go jingle-jangle

The walls of the ceiling are painted in blood
The lights go down, the red curtains come apart
The room is full of smoke and dialogue I know by heart
And the coins in my pocket go jingle-jangle
As the great screen cracked and popped
The clock of my boyhood was wound down and stopped
And my handsome little body oddly propped
And my trousers right down to my ankles
Yes, it’s on onward! And upward!
And I’m off to find love
Do you love me? If you do, I’m thankful

This city is an ogre squatting by the river
It gives life but it takes it away, my youth
There comes a time when you just cannot deliver
This is a fact. This is a stone cold truth.
Do you love me?
I love you, handsome
But do you love me?
Yes, I love you, you are handsome
Amongst the cogs and the wires, my youth
Vanilla breath and handsome apes with girlish eyes
Dreams that roam between truth and untruth

Memories that become monstrous lies
So onward! And Onward! And Onward I go!
Onward! And Upward! And I’m off to find love
With blue-black bracelets on my wrists and ankles
And the coins in my pocket go jingle-jangle
(Nick Cave, 1994)

4 Kommentare

  1. Lieber Urs,
    ich mag die Wortkombination „digitale Rübe“, lässt mich schmunzeln trotz ihrer Schattenseite, die ich durchaus sehe … Habe also dazu gegoogelt: Mohrrübe und Esel oder Zuckerbrot und Peitsche und so weiter und so weiter. Da bin ich auf eine spannende Seite gestoßen: http://guillaumepaoli.de/demotivationstrainer/ und die dazugehörige Überschrift: *Warum tun wir etwas und nicht nichts?*
    Danke dir für diese abendliche Anregung, wie immer sprachlich genial formuliert, und dazu angehalten, das zerschmolzene Hirn wieder zu aktivieren …;-)

    Liebe Grüße,
    Mia

    Gefällt 1 Person

    • Liebe Mia
      Ach, was ist es doch schön, Deine treffenden Kommentare zu lesen, am nächsten Mittag zwar erst, aber umso motivierender! Besonders wenn man gerne geliked werden möchte :-)
      Herzlich, Urs

      Like

  2. Lieber Urs,
    das ist wirklich ein erschreckender Trend – der Mensch lässt sich / macht sich selbst zum Produkt, das festgelegten Standards (Verhalten, Aussehen etc.) entsprechen muss. Die Vermarktung und Optimierung seiner selbst scheint dabei Pflicht zu sein, um sozial nicht abgehängt zu werden. Wo bleiben da noch die Individualität und die Diversität?
    Nick Cave habe ich mir – mangels Schallplatte – auf youtube angehört. Die Lebenswanderung und Suche nach Liebe schleppt sich hier in einem melancholischen Rhythmus der Langsamkeit hin und hypnotisiert.
    Danke für diesen sehr anregenden Beitrag. FETTES LIKE! :-)

    Herzliche Grüße
    Ulrike

    Gefällt 1 Person

  3. Lieber Urs,
    auch dieser Post hat es wieder in sich, stimmt nachdenklich… Besonders jene Zeilen hallen bei mir nach: „Er folgte mir nicht nach Hause, dafür auf Instagram. Ich gesellte mich zu seinen rund 17’000 Folgern. Let’s keep in touch…“

    Liebe Grüße
    mo…

    Gefällt 1 Person

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