Geht in den Wald und umarmt Bäume

„Geht in den Wald und umarmt Bäume“ titelte ich einen Artikel, den ich Ende 90er für die Berner Zeitung geschrieben hatte. Ich weiß nur noch, dass ich mich darin über den Vortrag eines Esoterikers mokierte, dessen Sendungsbewusstsein mir suspekt war, wie überhaupt der ganze feinstoffliche Hokuspokus.

Frühmorgens vernehme ich ein Taubengurren aus der Küche, aber da ist kein Vogel. Doch es gurrt. Ich horche und orte. Es tönt aus dem Kaminschacht. Vielleicht drückt ein Windstoß das Gurren einer Taube auf dem Dach hinunter in meine Küche?
Gurren im Schacht, das ist Aschenputtel oder führt in ein Paralleluniversum, als wäre ich in der Serie Tales from the Loop. Statt einer Zeitreise durchs Wurmloch nehme ich in Angriff, was ich mir vorgenommen habe, (endlich!) einen neuen Schalter für ein Nachttischlämpchen zu kaufen, verbunden mit einem ausgedehnten Spaziergang über Tempelhof und die Hasenheide Richtung Neue Welt, wo ich maskenfrei einen Baumarkt betreten würde, zur Not hätte ich einen Schal mit.

Vielleicht ist es das Zwitschern eines Vogels in der Hasenheide, vielleicht eine schaukelnde Hängematte, vielleicht der auf einer Slackline balancierende Dreadlock, wahrscheinlich ist es die Uralte, die mir mit wunderbar wallendem grauem Haar lächelnd entgegen joggt. (Vital wird angesichts sporttreibender Alter gerne hinzugefügt. Junge bedürfen offenbar keiner lebensversichernden Adverbien, egal wie putterrot ihr Kopf.)
Die unerschütterlich Lebensfreudige lächelt mich an, wofür ich sie am liebsten an mich drückte, sie mich auch, spüre ich.
Oh wie mir Umarmungen fehlen!
Mich drängt an einen Baum.
Bäume gibt es viele, aber ich kann am helllichten Tag doch nicht einfach so einen Baum umarmen, mitten im Park. Die Leute würden stehen bleiben und gaffen, Kinder zeigten auf mich, Skater kippten von Brettern, Hunde rissen sich von Leinen los, kurzum, ich würde für verrückt gehalten, gleich den predigenden Pennern auf den Straßen Neuköllns.
Was für einen Baum will ich überhaupt umarmen, einen dünnen oder stämmigen? Eine melodramatische Weide, einen druidischen Ahorn, eine phallische Pappel?
Ich könnte mich ins Unterholz schlagen, abseits der Kieswege und Wiesen zur Tat schreiten, aber dort trete ich bestimmt einem Dealer auf sein verbuddeltes Gras. Auch könnte der Verdacht aufkommen, ich sei am Cruisen, im Gebüsch am räudige Männer aufspüren. Es gibt Stellen im Park wo ich fündig würde, stöhnen und kommen könnte, nein, solcherlei Umarmung suche ich nicht! (OH DOCH JA BITTE SOFORT)
Ich bevorzuge Durchblick, darum betrete ich kein Dickicht.
(Ich stehe auf unbehaarte Männerbrüste.)
Ich träume von lichten Birkenwäldern mit flirrenden Sonnenflecken auf moosigem Boden.
(Ich will die Wildschweine sehen bevor sie mich.)

Mein Blick schweift über eine Mauer auf einen Friedhof.
Dort werde ich zur Umarmung schreiten!
Kurz flackert das Grab von James Joyce auf dem Friedhof Fluntern durch meine Gedanken. Gleich in zwei Büchern, die ich nacheinander las, taucht es auf, in Stern111 wird es von der Mutter des Protagonisten besucht und Patti Smith erwähnt es in Year of the Monkey. Wie immer nach einem Buch von Patti ist mir nach poetischer Magie.
Wie das Leben so spielt, auf Dauer ist es ironischer zu uns, als wir zu ihm.
In den Zwanzigern foutieren wir uns hochnäsig über den Ernst des Lebens, in den Dreißigern stellen wir cool Ennui zur Schau. Ende Vierzig macht sich Dankbarkeit breit, für jeden Tag an dem uns das Gesicht nicht von den Knochen fällt wie faule Rinde, ahnend, dass Demut folgt, später gar Ehrfurcht, bis wir dereinst, abgebrüht von der Dauersicht in den Abgrund, dem Gevatter frech grinsend den Stinkefinger zeigen, ätsch!

Ich spaziere vorbei an der Apostolischen Nuntiatur, in deren Garten zwei Männer Ping Pong spielen. Attraktive! Priester!? Drifte ab zu Fleabag, wo sich die Protagonistin in einen katholischen Priester verliebt. Ich schaue zu viele Serien. Ich beichte: Auf Amazon. (Ich schwöre, nicht über den Probemonat hinaus zu schauen. Es gibt kein Ave Maria. Ich bin nicht katholisch.)

Auf dem Friedhof suche ich eine Birke und umarme sie. Ihre Rinde wärmt meine Wange, ich drücke sie und hoffe, dass sie nicht fürchtet, ich wolle ihr an die Wurzeln.
Ich umarme eine amputierte Eiche, was mir zu viel Blut-und-Boden-Beuys ist und nähere mich, bevor ich die Toten wieder ruhen lasse, einer Rotbuche, deren glatter Stamm mich zärtlich stimmt. Kurz meine ich, ihre Nachbarin schüttle eifersüchtig ihre Krone. Nur ein Eichhörnchen beobachtet mich von oben herab und eine Krähe legt ihren Kopf schief.
So habe ich also Bäume umarmt, noch schüchtern zwar und kurz.
Es warten Wälder.

Später suche ich im Keller erfolglos den erwähnten Zeitungsartikel, finde stattdessen ein Stoffäffchen. (Als ich Kind war!) Meine Jahresringe liegen in Bananenkisten. Umzug um Umzug.
Ich nehme das Äffchen mit, wasche es im Waschbecken, denke dabei an das Buch Argonauten von Maggi Nelson, wo ich, bevor mich das wunderliche Taubengurren unterbrach, las, wie die queere Autorin ihren neugeborenen Sohn Iggy liebkost.
Ich denke daran, dass ich keine Kinder haben werde oder wollen würde, nichts von mir Blutlinien entlang weiterläuft, dass sich mein Äffchen also gedulden muss, bis in einem Secondhand-Laden ein Kind „Papa“ rufen wird, seine Väter sich zu ihm drehen, dem ausgestreckten Händchen folgen und mein Affe, den sie Little Monkey taufen, wieder zum Lieblingstier wird.
Längst werde ich verstreut unter einem Baum ruhen.

Songempfehlung für Gänsehaut: Baby Birch, Joanna Newsom

6 Kommentare

  1. Lieber Urs,
    Du liegst da ganz im Trend mit Deinem Wunsch einen Baum zu umarmen. Hier findest Du weitere Infos, wenn Du willst. https://www.philipkeller.de/Methoden/Waldbaden/ In einem meiner U3L Seminare war es im letzten Jahr auch mal Thema und wir sind sogar in den Frankfurter Stadtwald gefahren und haben es gemeinsam ausprobiert. Es war schon ein wenig merkwürdig und zunächst auch befremdlich, aber irgendwie auch gut. Ich habe den Geruch des Waldes nie so intensiv erlebt wie da. Damals hätte ich aber nicht im Traum gedacht, dass dieses Bäume umarmen vielleicht in Corona-Zeiten Defizite ausgleichen könnte. Ein Baum im Arm, ist sicher besser, als nix im Arm.
    Liebe Grüße
    Anne

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  2. Lieber Urs,
    ich bin heute etwas später dran, habe zweimal Schreibcafé-Zoom-Meeting geleitet, vermutlich das kommende das (Un)Wort des Jahres 2020… :-)

    Ich habe drei Lieblingsstellen von dir montiert:

    Es
    warten Wälder.
    Meine Jahresringe liegen
    in Bananenkisten, stattdessen ein
    Stoffäffchen

    Ich sehe sie, die Bäume, ich schaue direkt auf sie, wenn ich das Fenster im vierten Stock öffne und ich habe heute überlegt, wie lange es her ist, dass ich einen Baum umarmt habe. Eine Woche, glaube ich. Viel länger ist es her, dass ich meine Eltern, meinen Bruder, meine Freund*innen und einen Geliebten umarmt habe …
    Ich sehne mich danach und bin erschreckt darüber, wie schnell ich mich auch daran gewöhnt habe …
    Habe ich das, frage ich meinen Stoffdrachen, der im hausflur sitzt. Er schweigt.

    Danke für diesen wundervollen grünen Spaziergang, auf dem ich dich heute begleiten durfte,
    herzliche sonnige Grüße,
    Mia

    Gefällt 1 Person

    • Liebe Mia
      Danke für Deine Montage und Deine wenigstens verbale Umarmung!
      Bald dürfen wir wieder, nicht nur auf Zoom (oh ja, Zoom-Meeting schafft es ganz weit nach oben, ich vermute aber, Social Distancing macht das Rennen).
      Blaugrüne Knuddelgrüße auch an den Drachen!
      Urs

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  3. Lieber Urs,

    bin gerne mit dir auf Baum-Umarmungstour gegangen. In das leicht genierliche Gefühl kann ich mich gut hinein versetzten. Ich bin auch sehr von Bäumen fasziniert und möchte mich auch gerne öfters trauen, sie in meine Arme zu schließen. Muss mir nur noch einen Guten aussuchen (ich weiß leider meist noch nicht einmal wie die Naturriesen heißen – bis auf die Birke, die ich gut erkenne). :-)

    Dein Stoffäffchen ist ja goldig! Da freut sich bestimmt bald ein Kind.

    Herzliche knorrig-warme Grüße
    Ulrike

    Gefällt 1 Person

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