zwei meter du arschloch

Durch die Scheibe

Karfreitag überstanden, denke ich unter der Dusche, die ich nehme, obwohl ich getrost stinken könnte, weil mir niemand nahe genug kommen darf, um unter den Achseln zu schnüffeln. So einen Achselschnüffler ließe ich liebend gerne an mein Kreuz, das ich feiertags besonders selbstmitleidig von Pontius zu Pilatus schleppe, vom Glauben abgefallen, dass da je Einer komme, mir die Füße zu waschen. Haltet ein! Ich bin kitzlig. Ich entsteige der Dusche, öle mich mit biodynamischem Sanddorn ein und denke an Joe Schreibvogel, den Löwenbändiger, der gerade auf Netflix Furore macht, in einer Freakshow ohnegleichen, Vokuhila, Glitterhemd, Bling Bling, Manta Manta, nur gefährlich und echt. Mir vergeht das Lachen. Mir ist nach Untergang. (Nächstenliebe ist ein starkes Wort.) Trotzig lehne ich es ab, alle zu mögen.
Ei,
Ei, Ei,
Ei, Ei, Ei,
Ei, Ei, Ei, Ei,
Ei.
Ein samstäglicher Versuch Einkaufen zu gehen scheitert an der Schlange.
Ich stehe nicht an.
Es ist nicht Krieg, die DDR ist lange her und das Berghain hat zu.
Da ich neuerdings Vorrat habe, werde ich bis Dienstag überleben.
Ungewohnt für einen Angehörigen der Generation Hand in den Mund.

In der Hoffnung, die dräuende Misanthropie vertreiben zu können, radle ich durch die Gegend. Warum ich nicht in meiner mitmenschenfreien Wohnung bleibe, leuchtet auch mir nicht ein. Einzig das Schreckbild des Stubenhockers, implantiert von wandersüchtigen Eltern, könnte eine Erklärung sein, warum ich meine, hinaus zu müssen, kaum strahlt die Sonne, die gelbe Sau, wie Peter Licht sie schimpft:

Und die Sonne
kocht auch nur mit Wasser
Die soll sich nicht so aufspielen
die gelbe Sau

Berlin ist groß.
Ich bin ohne Handy unterwegs. Wie aufregend!
Ziellos und möglicherweise bald ohne Orientierung.
Eröffnen sich dadurch ungeahnte Freiheiten?
Irre ich herum, bis ich, verwahrlost, Geister anschreie?

Ich fahre durch den anblühenden Tiergarten.
Ich fahre vorbei am Schleusenkrug, wo ich einst ein Bier trank mit einem Hübschen, von dem ich hoffte, dass er sich auch am Verlieben ist. Jedes Mal denke ich daran, wenn ich am Schleusenkrug vorbeiradle, ich weiß schon davor, dass ich gleich daran denken werde, ich denke es mehrfach, nicht zwanghaft, aber erzwungen, bis eine andere Erinnerungswolke ihren Schatten wirft, wie wir damals, im Frühling 1989 auf der Brücke standen, nicht am Schleusenkrug, auf der nahen Lichtensteinbrücke und uns der Berufsschullehrer von der Ermordung Rosa Luxemburgs erzählte.

Ich fahre am Zoo vorbei, wo ein Tier elend Laut gibt, ein Elefant? Eher ein Esel.
Was die Eingesperrten wohl denken mögen, so unbetrachtet?

In Charlottenburg-Wilmersdorf gibt es diese langen, breiten, hässlichen Straßen, gesäumt von Architektur, die niemand entworfen haben kann.
An einer Kreuzung an der Bundesallee stehen drei Fahrradfahrer fortgeschrittenen Alters in Radsportkleidung auf dem Bürgersteig und halten ein Schwätzchen. Ein junger Mann in Trainingsbekleidung schlendert heran, riesige Kopfhörer, halblange Haare, geht zwischen den Älteren durch und wartet wie ich auf Grün.
Hey! Hey!! HEY!, schreit einer der Älteren bis der Jüngere den Kopfhörer hebt. Ja?
Abstand!!! Begleitet von einer Armbewegung, die einen Umweg über Polen suggeriert.
Das Schulterzucken des Jungen quittiert er mit: Zwei Meter, Du Arschloch!
Es wird Grün, ich fahre los, ich höre Geschrei bis ein Fahrradwegschild nach Friedenau weist und ich dankbar abbiege.
In der Prinzregentenstraße warten Uralte vor einem Wohnheim namens Der kleine Prinz (!), an der linken Hand der Tropf, in der rechten Zigaretten, auf den Tod.
Ich fahre am Rathaus Schöneberg vorbei, wo die Sterbenden, als sie jung waren „Ich bin ein Berliner“ sagen hörten.

Später das Tempelhofer Feld.
In keiner Stadt ist so viel Weitblick.

Zu Hause putze ich endlich die Fenster.
Mit den Wirtschaftsseiten einer alten ZEIT.
Wie aufregend! Im polierten Glas erscheine ich mir.

Nachtrag Ei
Mit oberen elf Eiern reihe ich mich in Ulrikes Blogparade ein.

Nachtrag Zoo
Tatsächlich befindet sich hinter der Wand, an der ich vorbeiradelte, der Streichelzoo Hans im Glück, sehe ich später auf einer Online-Zookarte.

Nachtrag Fensterputzen
Carl Bischoff, die Hauptfigur von Stern 111, ein sehr lesenwerter Roman von Lutz Seiler, der in der sogenannten Wendezeit spielt, putzt nach dem Aufbrechen immer die Fenster der Wohnung, die er wegen der dreckigen Scheiben als wahrscheinlich unbewohnt erkannt hat und durch das Putzen potentiellen Besetzer*innen signalisiert, dass sie bereits besetzt ist.

Saubere Scheibe

6 Kommentare

  1. Lieber Urs,
    danke für den (Ein)Blick aus sauberen Scheiben hinaus ins fremd anmutende Berlin, dass doch voller Erinnerungen wie immer erscheint …
    Mein Lieblingssatz „Ungewohnt für einen Angehörigen der Generation Hand in den Mund“. Das mit dem Nicht-Anstellen-wollen“ habe ich am Samstag auch gedacht und bin wieder umgedreht. Es ist genau zuhause. genug ist nicht viel, ist aber mehr als genug, bis sich die Welt am Dienstag wieder C-normal weiterdreht …

    Liebe Grüße,
    Mia

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  2. Lieber Urs,
    gibt es ein Wort für radelnde Flaneure? Als solchen nehme ich Dich auf Deinem Weg durch Berlin wahr und begleite Dich gern. Bei der schattenspendenden Erinnerungswolke vertrödele ich mich ein bisschen. Aber am Rathaus Schöneberg bin ich wieder auf Augenhöhe. Deine distanzierend-belustigte Wahrnehmung der Welt um Dich herum gefällt mir mal wieder richtig gut. Danke für den klaren Blick, den Du damit schaffst.
    Endösterliche Grüße
    Anne

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  3. Lieber Urs,

    ich habe dich gerne in Gedanken auf deiner Fahrradtour durch Berlin begleitet. Das ist Berlin mit allen seinen Facetten und Widersprüchen – von rau („Zwei Meter, Du Arschloch!“ – HA HA HA) bis morbide poetisch (Seniorenwohnheim „Der kleine Prinz“), mit eingezäunten Zoo-Tieren ohne Betrachter und man selbst unter dem Brennglas der Selbstbetrachtung im Gefängnis der Gedanken und Kontaktbeschränkungen. Trotzdem – wenn man die Augen aufmacht, dann lockt der Weitblick – nicht nur auf dem Tempelhofer Feld.

    Vielen Dank für diesen inspirierenden Parcours.

    Herzliche Grüße
    Ulrike

    PS: Über die 11-Elfchen-Eier habe ich mich natürlich sehr gefreut! :-)

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    • Liebe Ulrike
      Ich danke Dir für die Akzeptanz meiner 11er! Dachte lange, hm, wie könnte ich bei Ulrikes Parade mitmachen? Mir war gerade nicht so nach Lyrik, aber dann, ei ei ei, schlüpfte der Gedanke :-)
      Danke für Deine Begleitung!
      Herzlich, Urs

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