George unterschreibt die Lochkarte, wobei er sie mit zwei Fingerspitzen festhält. Ihm widerstrebt es sogar, diese Dinger anzufassen, denn das sind die Runenzeichen einer zwar idiotischen, aber nichtsdestoweniger mächtigen Teufelsmagie; die Magie der Denkmaschinengötter, deren Kult ein Dogma zugrunde liegt: Wir machen keine Fehler. Ihr ganzer Zauber besteht darin, dass, wenn sie einen Fehler machen, was reichlich oft passiert, sich dieser Fehler verewigt und somit ein Nicht-Fehler wird.
Christopher Isherwood, Der Einzelgänger.
50×50, Tag 20
50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).
Was bisher geschah: Wir bastelten Baum-Memory und ignorierten den Mauerfalls ganz transparent.
(Vortag: 1989 / Folgetag: Cage)
1990
In diesem Jahr begriff ich, dass mein Körper nicht mir gehört. Der Staat übte Zugriff und befahl ihn zur Aushebung (Musterung). Ich bereue heute noch, dass ich damals noch nicht out war, nicht aufgetakelt vor die Uniformierten stöckelte, um ihnen zu zeigen, warum ich unbedingt in die Rekrutenschule (RS) wollte, it’s raining men, hallelujah.
Nur über meine Leiche! Ums Kanonenfutter ging’s den Herren aber. So stempelten sie trotz meiner Beteuerung, das Tötungshandwerk nicht erlernen zu wollen, tauglich ins graue Dienstbüchlein. Einer entblödete sich nicht, mich mit der Frage zu konfrontieren, was ich denn täte, mit der Pistole im Nachttischschublädchen (wir denken kurz an Tschechows Gewehr an der Wand), wenn ich mit meiner Freundin (in!) im Bett läge und ein Einbrecher ihr ans Eingemachte wollte. Ich hätte kokett antworten sollen, dass in meinem Zimmer kein Nachttischchen stehe.
What You See(d) Is What You Get
Sich wundern über toxisches Verhalten
aber Giftspritzen in Arschbacken drücken
und Gewaltbereitschaft fordern
Zum Mann würde ich werden, drohte die Verwandschaft, am lautesten die Mutter, die wohl auf die Sozialisierungskraft der Schweizerischen Milizarmee hoffte.
Nach Lehrabschluss beendete ich zum Schrecken der noch Erziehungsberechtigten meine vielversprechende Laufbahn bei der Bahn, nahm einen Bürojob an und führte als Sekretariatsaushilfe einen hochkantigen Macintosh ein. Im Gegensatz zum alten Wordprozessoren war darauf zu sehen, was man kriegte. WYSIWYG, ein vergessenes Zauberwort der Digitalisierung.
Im Spiegel sah ich meine langen blonden Haare fallen und das Einrückungsdatum näherkommen.
Ich schlief kaum noch.
Ich erfuhr, zu welchem Psychologen ich kann. Sein Sohn habe sich in der RS umgebracht. Seither täte er sein Bestes, verzweifelten Einberufenen* zu helfen.
Ich zeichnete einen Baum ohne Wurzeln.
Mein Körper gehörte wieder mir.
Weil aus mir nie was würde, zog ich aus zu Hause.
1990 bezeichnete Friedrich Dürrenmatt anlässlich der Preisverleihung des Gottlieb Duttweiler Preises an Vaclav Havel die Schweiz als Gefängnis.
Im Kino lief Wild at Heart, mein erster Lynch.
Sailors gleich, wird mein Arm ewig zittern, wenn ich mit teuflischem Blick auf Jene zeige, die mir meine Freiheit streitig machen.
* In der Schweiz waren damals die einzige Möglichkeiten, nicht in die RS gehen zu müssen, gesundheitliche Gründe oder Verweigerung, also Gefängnis.
Christopher Isherwood: Der Einzelgänger. Albino, Berlin, 1984. S.31
Lieber Urs,
verdammt mutig, zu dir zu stehen, mit allen Konsequenzen für Leib und Leben …
Sehr nachdenkliche Grüße,
Sabine.
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Dankeschön liebe Sabine!
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Lieber Urs, nach dem heiligen Digidetox habe ich ein paar Kapitel aufzuholen, die spannendsten Jahre vielleicht überhaupt. Umbruch, nicht nur in der Weltordnung. So ein Memory wäre auch cool: vor und nach 1989. Im März 89 fuhr ich für zwei Wochen alleine in die DDR, als hätte ich geahnt, dass es eine letzte Gelegenheit war. Und 1990 zog auch ich von zuhause aus, aber richtig. Nämlich nach Berlin. Das ähnelt der Befehlsverweigerung.
Was ist eigentlich mit Max, Grace & Co.? Im Winterschlaf?
Winterliche Grüße nach Petershagen oder Berlin, knuddel die Katzen, Amy
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Liebe Amy
Ich muss die Reisegruppe dringend wecken. Die sind der uckermärkischen Völlerei erlegen wie das Reh vom Jägernachbarn, dessen Keule wir gestern genießen durften. Dann der viel Schnaps, das Gebäck, die Bouche de Noël und und und und…
So, jetzt muss ich mich aber irgendwie noch um den heutigen Eintrag herummanövrieren. Ausgerechnet 1991!
Herzlich, Urs
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Du schaffst das, ich glaub an dich!
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Uff, ganz knapp. Jetzt endlich Cocktailhour. :-)
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