Gay Chic

„Ich suche bei Leuten immer nach deren Komplexitäten.“
Wolfgang Tillmanns

50×50, Tag 36

50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).

Was bisher geschah: Meine Mutter starb und ich schrieb eine augenzwinkernde Würdigung der Mütter dieser Erde.
(Vortag: Mutter / Folgetag: Substitut Berlin)

Brokeback Mountain

2006 war ich an der Berlinale akkreditiert und sah dutzende Filme unter anderem Capote. Für die eindrückliche Darstellung von Truman Capote gewann Philip Seymour Hoffman kurz darauf den Oscar für den Besten Hauptdarsteller.
Gemeinsam mit Cynthia Gavranic kuratierte ich im Museum für Gestaltung Zürich die Ausstellung „Gay Chic – Von der Subkultur zum Mainstream“.

Eine ihrer Hosen berührten wir ehrfürchtig, bevor wir sie in eine Vitrine hängten.

Die Ausstellung thematisierte den Einfluss des schwulen und lesbischen Stils auf den Mainstream, vom Ur-Dandy Beau Brummell zur Garçonne, von der Marlene-Hose zum BlingBling des metrosexuellen Fußballers David Beckham. Sie zeigte neue Männerbilder aber auch Trends, die damals erst erahnbar waren, die Rückkehr von Schnauzer und Bart, noch bevor Hipster zum Sammelbegriff und Kaffeerösterei zur Leidenschaft urbaner Männer wurden.
Wir schauten auf die Popkultur, natürlich auf die 80er, von Bronski Beat bis Boy George; insbesondere auf die Clubkultur, die genuin schwul ist und nach wie vor stark von der queeren Subkultur geprägt wird.
Wir zeigten den Einfluss der Kunst, von den opulenten Bildern Pierre&Gilles, über die homoerotischen Fotos Walter Pfeiffers zu den Drag Kings der Fotografin Judith Schönenberger.

Die Ausstellung erhielt außergewöhnlich viel Presse, sogar die Tagesschau des Schweizer Fernsehens berichtete (Kulturbeiträge sind dort selten). Hier ein Beitrag aus der Sendung Kulturplatz. Gay lag voll im Trend. In der Schweiz war die Eingetragene Partnerschaft beschlossene Sache (möglich wurde sie ab 2007), wie sie auch in vielen Ländern in dieser Zeit eingeführt war (Elton John ließ sich in England 2005 eintragen). Filme wie Brokeback Mountain und der eingangs erwähnte Capote gewannen zahlreiche Preise.

Backlash

2021
Seit fast einem Jahr findet queere Subkultur pandemiebedingt kaum mehr statt, weil für diese Szenetreffpunkte, Versammlungen von Gleichgesinnten und -veranlagten vital sind, wozu auch Clubs gehören.
In europäischen Ländern wie Polen und Ungarn ist LGBTI zum Kampfbegriff der rechtskonservativen Gegenbewegung geworden.

Dies und vieles mehr müssten wir thematisieren, planten wir eine Neuauflage der Ausstellung. Wir würden hervorheben, dass das Berghain (wo ich am 4. Februar 2006 erstmals begeistert tanzte) mal zum weltbesten Club gekürt wurde, wir gingen auf Orte wie das queere, feministische about:blank ein, wo die monatliche Homopatik, später Buttons, die Clubkultur bereicherten, ebenso wie die Cocktail d’Amore in der Grießmühle, inklusive der langen Schlangen, in denen halb Europa stundenlang auf Einlass wartete.

Queer Chic

Wir betitelten die Ausstellung wahrscheinlich nicht mit Gay, sondern Queer. Wir gingen auf Gender- und Queerstudies ein, die heutige Debatten wie beispielsweise Gendermainstreaming aber auch Cancel Culture angestoßen haben, respektive stark beeinflussen.

„Trans“, spielte garantiert eine zentrale Rolle, von Elliot Page bis Roey Victoria Heifetz

Ebenso erhielte Bodypositivity genügend Raum, weil in der queeren Subkultur unterschiedliche Körperbilder neu bewertet werden. Vielleicht würden Simone Aughterlony, Teresa Vittucci oder Jen Rosenblit zur Eröffnung performen.

Überhaupt gäben wir den Darstellenden Künsten viel Raum, wir würden sicher Marc Streit einladen, Kurator von zurich moves!, der queere Performancekultur an die Limmat brachte, Jahre bevor diese in großen Institutionen wie dem Schauspielhaus Zürich ankam.

Wir hätten auch einen Blick auf queere Migrant:innen geworfen. Beispielsweise den wunderbaren Film „Futur Drei“ von Faraz Shariat, eine authentische, witzige, aber auch traurige Geschichte zweier Generationen Exil-Iraner:innen in Deutschland. Sehenswert, auch weil künstlerisch gut gemacht.

Maison Du Futur

2036
Im Jahr 2036 überlegt sich Max, ob er eine Neuauflage der Ausstellung kuratieren soll, zusammen mit dem jüngeren Ben. Max wird aber gerade pensioniert und erhält zum Abschied von seinen Kolleg:innen einen Gutschein für die dreimonatige Kreuzfahrt „5th Element“ um Erde und Mond geschenkt, für zwei, also nimmt er Ben mit.
Max nimmt sich vor, danach etwas zum Thema „queer Altern“ zu machen. Aber zuerst muss er sich mit der Gruppe pensionierter Queers treffen, die endlich ein geeignetes Haus zum gemeinsamen Älterwerden am Mittelmeer gefunden hat. Damit hat er einstweilen alle Hände voll zu tun.

Eingangszitat
Zitiert nach Minoru Shimizu in: Wolfgang Tillmanns. truth study center. Taschen Verlag, Köln, 2005

6 Kommentare

  1. Queer Chic. Diese Ausstellung wäre toll! Ich würde auch wieder eine Musikauswahl treffen, wie ich es schon für Gay Chic machte. Material habe ich massig! Und Ops! Im TV Beitrag laufe ich am Schluss sogar zum Bild raus. Konnte mich daran nicht mehr erinnern. Danke Urs, für die schönen Erinnerungen.

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    • Lieber Ludwig
      Oh, ja, Deine Playlist! Hast Du die noch? (Ich müsste wohl tief in den Kisten wühlen…)
      Wir reden mal über eine Neuauflage.
      Danke für Deinen schönen Kommentar!
      Liebe Grüße nach Bern, Urs

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  2. Wieder bin ich angetan vom Kennenlernen einer unbekannten Welt! Gay/Queer hat schon Chic. Späte Mädchen haben den nicht. Da ist wieder der Neid, das Bedauern, die Sehnsucht, irgendwo hin-/dazuzugehören. Deine mag eine schwierige Identität sein, aber sie ist wenigstens eine. Zwischen allen Stühlen: Amy

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    • Liebe Amy, also jetzt muss ich dich wirklich wirklich dringend bitten, rechtzeitig eine 50×50-Serie zu starten. Muss ja nicht täglich sein. Aber ich will regelmäßig bis zu Deinem, ehm, 30. aus Deinem spannenden Leben erfahren (die Tröpfchen, die manchmal durchdrücken machen Lust auf den See). Abgemacht?
      Herzlich, Urs

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  3. Lieber Urs, lieber Max,
    ein Haus zum Älterwerden am Mittelmeer, seufz …mit dem Blick aufs Meer verändert sich die tägliche Perspektive, da bin ich mir sicher, denke gerade an den Strandtripp mit Aperol in Venedig …
    Liebe Grüße,
    Sabine aus dem tristen Grauhomeoffice weit weg vom Meer …;-)

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