Es war Irrsinn, sie zu kriegen; es war unsere Entscheidung, also sind wir selbst daran schuld.
Anke Stelling, Schäfchen im Trockenen
50×50, Tag 35
50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).
Was bisher geschah: Ein Linguistiker spritzte Gift und Galle auf den Genderstern, ich holte aus zur Replik, begann bei Les Complices* und dem White Space und fand zur diversen Gesellschaft.
(Vortag: Curare * / Folgetag: Gay Chic)
Mutter der Nation
2005
Angela Merkel wurde Kanzlerin. Als „Mutter der Nation“ neben Helga Beimer (Inge Meysel starb 2004) würde sie erst sich noch bewähren müssen.
2005 starb meine Mutter. Sie war gelernte Damenschneiderin, nach ihrer Scheidung alleinerziehende Mutter von drei Kindern und Putzfrau. Sie wurde 59 Jahre alt.
Unser Verhältnis war schwierig, wir hatten uns lange nicht gesehen. Ich war ihr nicht der Sohn, den sie sich gewünscht hatte und sie mir selten die Mutter, die ich gebraucht hätte.
Sie musste am Herz operiert werden und erwachte nicht mehr aus dem Koma. Offenbar hatte sie zwei Herzinfarkte gehabt. Wohl aus Angst, ihre Anstellung als Bäckereiverkäuferin zu verlieren, spielte sie ihre gesundheitlichen Probleme so lange herunter, bis es zu spät war. Der behandelnde Arzt sagte, er habe nie einen Menschen in so schlechtem Zustand ins Spital gehen sehen.
Ihre Haltung war zeitlebens, dass Küenzis keine Hilfe brauchen, dass sich schämen muss, wer Unterstützung in Anspruch nimmt. Ihre größte Angst war, Sozialhilfeempfängerin zu werden.
Das taten nur Schmarotzer und Ausländer.
Sie starb an einer tödlichen Mischung aus Lebensgiften: Angst, Sturheit, Stolz, Xenophobie und Unbelehrbarkeit. Sie ist auch Opfer des Klassismus und eines Systems, das in der Schweiz zu einer geradezu tödlichen Arbeitsmoral geführt hat. Sie ist Opfer eines falschen Stolzes der Arbeiterschicht, die sich von Rechtspopulisten hat einreden lassen, dass man sich der sozialdemokratischen Errungenschaften, des Sozialstaates, schämen muss. Ein Leben lang zahlen Arbeiter:innen in die Kasse ein, ohne eine Ahnung davon zu haben, was und wer mit Solidarität gemeint ist. (Vgl. u.a. Édouard Louis)
Eine Woche lang verbrachte ich in Bern, bei einem Freund, einmal wurde ich mitten in der Nacht angerufen, es sei wohl soweit. Sie müsse eigentlich tot sein, mit solchen Werten, meinte die Schwester. So schnell ließ meine Mutter nicht los. Ich wusste, sie würde kämpfen, weil ich ihre Zähigkeit und Sturheit geerbt habe. Es war nicht abschätzbar in welchem Zustand, ob überhaupt, sie erwachen würde. Als sich dieser vorübergehend stabilisierte (sie lag immer noch im Koma) ging ich zurück nach Zürich. Kaum angekommen, rief eine böswillige Verwandte, die Hexe in meinem Leben, an: „Was hattest Du am Krankenbett Deiner Mutter zu suchen, Du Heuchler?!“ Ich hängte auf und brach zusammen.
Meine Mutter liebte die Berge. An ihrer Beerdigung am 1. Dezember 2005 war strahlendblaues Wetter. Vom Friedhof aus sah man das Berner Bergpanorama, Eiger, Mönch, Jungfrau, Blümlisalp, alle leuchteten schneeweiß. Es hätte ihr gefallen.
Mutter Erde
Weil auf den Müttern die Zukunft der Menschheit lastet, gebührt diesen ein Würdigung. Bevor ich mich nachfolgend teilweise mit Augenzwinkern diversen Muttertypen widme, denke ich an alle unfreiwilligen Mütter und an solche die ihre Kinder verloren haben; an Mütter von denen Söhne erwartet werden, an alleinerziehende Mütter, an Mütter von Schwerstbehinderten und an Teen-Moms.
Weil ich vorhin wieder an die Hexe in meinem Leben dachte, beginne ich mit Lulas Mutter aus Wild at Heart, die alles tut, um diese von Sailor zu trennen. Unerreicht ist die Szene in der sie sich mit rotem Lippenstift das Gesicht verschmiert.

Mütter, ihr gebärt uns schwule Söhne und lesbische Töchter! Auf Netflix schaute ich die spanische Miniserie Jemand muss sterben. Die göttliche Carmen Maura gibt die Großmutter, eine Matriarchin in der Franco-Ära, die nicht davor zurückschreckte, ihren Ehemann zu erschiessen und ihren schwulen Enkel ins Gefängnis werfen zu lassen.
Es gibt natürlich auch gute Matriarchinnen, wie Antonia im Film Antonias Welt und prominente Adoptivmütter wie Madonna oder Angelina Jolie.
Was Mütter erleiden, die merken, dass ihr Sohn ein Psychopath ist, zeigt Tilda Swinton in We Need To Talk About Kevin. In I Am Love spielt sie eine Mutter, die in die Mailänder Upper Class eingeheiratet hat und mit dem besten Freund ihres Sohnes, einem Koch, eine Affäre beginnt, die tödliche Folgen hat. Überhaupt Italien, Land der Mütter, Anna Magnani, Mamma Roma!

Mit seinen Mutterfiguren, immer am Rande eines Nervenzusammenbruchs aber dennoch stark, hat auch Pedro Almodóvar den Kanon bereichert. Was für wunderbare Frauenrollen, nicht nur in Todo sobre mi madre!
Eine Vorliebe für schräge, mordende Mütter hat John Waters. Kathleen Turner spielt in Serial Mom eine herrlich durchgeknallte Killerin, die mordend dafür sorgt, dass der Anstand gewahrt bleibt.
Es gibt Mütter, die es mit ihren Söhnen zu gut meinen, wie in Woody Allens Beitrag zu New York Stories:
Andere Mütter fixen ihre Kinder mit Heroin an, wie Nico ihren Sohn Ari , den sie mit Alain Delon zeugte.
Aber auch Mütter, die mit ihren Töchtern Kunst machen, wie Ruth Erdt mit Eva Vuillemin

Die Kunstwelt lebt von Godmothers und Grand Dames, wie Esther Eppstein, die seit 1996 mit ihrem message salon in unterschiedlichsten Formaten der Szene in Zürich ein Zuhause bietet.
Legendär sind die xtravaganten Mothers der Houses in New York, Drags und Transfrauen, die sich um ihre Wahlfamilien kümmern mit denen sie in der Ballroom-Szene zu Battles antreten. Nachzuschauen in Paris Is Burning und der Netflix-Serie Pose.
(Siehe auch mein Beitrag Expose!)


Manche haben nur den Ruf, Rabenmütter zu sein, andere sind es:
Mütter wie Edina Monsoon sind absolutely faboulous Schwulenikonen:
Ein anderer Typus, öfter gesichtet im Prenzlauer Berg, beginnt mit der Frühförderung des Nachwuchses im Eierstock und verstellt bevorzugt mit SUV-großen Kinderwagen die Gehwege.
Bissig über das Dasein einer vierfachen Mutter, die als Schriftstellerin in prekären Verhältnissen lebt, schreibt Anke Stelling im Roman Schäfchen im Trockenen. Während ihre Jugendfreunde, die auch alle Kinder haben, sich zu einem gemeinsamen Hausbau entscheiden, fehlt der Protagonistin einerseits das nötige Kleingeld, andererseits der Wille, zum zwar sicheren, aber auch biederen Zusammenleben der Familien. Bei ihren Freund:innen stößt sie damit auf großes Unverständnis und wird abgestraft. Die Geschichte, wie sie die Schäfchen trotzdem ins Trockene bringt ist amüsant. Lesen!
Ich könnte noch eingehen auf Theatermütter wie Mutter Courage oder Medea, auf Puffmütter, Schwiegermütter, Ersatzmütter, Schwulenmuttis, auf Mutti, der Film und Katzenmuttis.
Ich gehe weder auf MILFs ein noch auf Anne-Sophie Mutters Geige.
Ich erwähne kurz das Motherboard in meinem Computer und die Muttersprache, in der ich nicht tippe, weil Schweizerdeutsch (Berndeutsch) nur gesprochen wird.
Ich fliege um Gaia, um Mutter Erde, hole Schwung und erreiche im Jahr 2037
Maison Du Futur,
das Mutterschiff, wo Ben den inzwischen 66-jährigen Max fragt:
Wolltest Du nie Kinder?
Nö.
Eingangszitat:
Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen. Verbrecher Verlag, Berlin, 2019. S.43
Ganz am Ende, weil unbedingt bis zum Abspann anzuschauen: Madame, der großartige Film von Stéphane Riethauser über seine Grand Mère und seine schwule Selbstfindung.
Lieber Urs,
deine fulminante Mutter-Retrospektive lockt mich zurück ins Blog. Nee, ich war einfach zeitlich sehr eng in den letzten Tagen. Mutter, ein ganz schwieriges Thema auch für mich, darum fehlte mir ein wenig die Tragik vieler Mutter-Kind-Beziehungen, jenseits der öffentlichen Muttis, die ich bei dir selber rauslas. Dem Zusammenschnitt der Mutti-Popkultur bin ich dennoch mit Spaß gefolgt!
Und, huch, die Gegenwart rückt immer näher, ich fürchte mich vorm Geburtstag, denn dann ist auch meiner nicht mehr weit. Ich hoffe, dir geht’s gut damit.
Sonnige Grüße: Amy
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Liebe Amy
Schön bist Du zurück! Das schwierige Verhältnis zu meiner Mutter würde Bände füllen. Das haben Freud&Co. für mich übernommen und die alten Griechen. In ein paar Posts musste es dennoch thematisiert werden.
Für diesen Beitrag beschloss ich, das Ganze eher humorvoll anzugehen, den Spielstand im Spannungsfeld Mütter und Macht eher unentschieden zu lassen, mit kleinem Vorsprung für mich, so knapp der demokratische in Georgia :-)
Komme gut durch die Woche! Herzlich, Urs
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