Curare *

with by through because towards despite
Harald Szeemann

50×50, Tag 34

50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).

Was bisher geschah: Die USA spielten verrückt und ich forderte die Reformation. Alles weil ich im Jahrhundertsommer ins Schwitzen kam.
(Vortag: Futurium / Folgetag: Mutter)

Les Complices*

Weil mir gestern der Grillrau(s)ch des Jahrhundertsommers und ein wütender weißer Mob den Blick auf das Jahr 2003 vernebelte, vergaß ich, den Anfang meiner Karriere als Kurator zu kommentieren. Das hole ich jetzt nach, auch weil es mir einen assoziativ-argumentativen Einstieg zum Thema Genderstern erlaubt, auf das ich weiter unten eingehe, weil mich ein Artikel in der Onlineausgabe der FAZ zu Gegenrede provoziert hat.

2003 war ich Teil des Kollektivs, das den von Jean-Claude Freymont-Guth initiierten Kunstraum Les Complices* betrieb. (Der Stern verwies symbolisch auf das Komplizentum, die unterschiedlichen Beteiligten.)

Off-Spaces, wie unabhängige Kunsträume in der Schweiz meistens bezeichnet werden, stehen in einer langen Tradition künstlerischer Selbstorganisation. Frühe Beispiele sind die Sezessionsbewegungen weg vom akademischen Kunstbetrieb, aus denen Kunsthallen hervorgingen. Off-Spaces wurden auch als Gegenentwürfe zu den Institutionen gegründet, die weniger zugänglich und aufgrund öffentlicher Interessen (konkret: Leistungsvertrag und Subventionen) gebundener sind. Off-Spaces sind vitale Szenetreffpunkte und notwendige Übungsfelder für alle Akteur:innen des Kunstbetriebs.
So auch für mich. Noch gab es in der Schweiz keine Curatorial-Studies. Auch heute noch gilt weitgehend: Wer das kuratorische Handwerk erlernen will, muss ein Praktikum oder eine Assistenz in einer Institution ergattern oder eben selbst tätig werden.
Off-Spaces sind Laboratorien in denen sich Künstler*innen, Theoretiker*innen und Kurator*innen (oft in Personalunion) unabhängiger als im institutionellen Rahmen ausprobieren können.

Mit der Übernahme durch Andrea Thal, die den Raum von 2007 – 2014 leitete, wurde der Stern in Les complices* Programm, sie kuratierte gender- und diversityaffin und trug damit viel zur Sensibilisierung der Kunstszene (und natürlich darüber hinaus) bei. In Off-Spaces werden sich abzeichnende gesellschaftliche Veränderungen modellhaft erforscht und erprobt, oft lange bevor die Themen auch von Institutionen aufgenommen werden.

from white to wild

Zusammen mit Mia Holz, die mit mir Kunsttheorie studierte, gründete ich 2004 den White Space. Die Eröffnungsausstellung nannten wir from white to wild. An der Vernissage stampfte die Performerin Marina Belobrovaja Sahne steif und Gabi Deutsch zündete eine Tigerlunte.

Die Erinnerung an die tollen anderen Beteiligten und die zahlreichen weiteren Ausstellung würde Seiten füllen. Für den weiteren Verlauf dieses Essays ist aber die Herleitung des Namens wichtig:

White Space spielt erstens auf den White Cube an, die seit etwas mehr als hundert Jahren übliche Form der Kunstpräsentation auf weißen Wänden. (Tatsächlich waren unsere Räume zwei fast symmetrische Kuben.) Zweitens ist White Space ein Begriff aus dem Grafikdesign/Typographie. Er bezeichnet den Leerraum um die Schrift, zwischen den Wörtern und Zeilen, aber auch den Raum zwischen allen anderen Elementen der Gestaltung. White Space verweist auf die Beziehung zwischen Raum und Objekt, die sich gegenseitig bedingen. Gelungene Gestaltung, auch kuratorische, ist elementar immer ein geschickter Umgang mit dem Raum. Das ist wesentlich weniger selbstverständlich, als es tönt. Schlechte Hängungen verpfuschen häufig Ausstellungen und zeugen von miserablem kuratorischem Gefühl für Raum und Miteinander der Objekte, wie kürzlich beispielsweise im Berghain zu sehen („Studio Berlin„).

Sex mit Gender

Wenig übrig für sprachliche Gestaltungsspielräume, das Gendern, besonders den Genderstern, scheint Peter Eisenberg zu haben, emeritierter Professor für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Potsdam und Autor einer Suada mit dem Titel „Unter dem Muff von hundert Jahren“ und dem Lead: „ Jetzt knickt auch noch der Duden ein: Die Anhänger des sprachlichen Genderns wollen uns Vorschriften machen, kennen aber die Sprachgeschichte nicht. Ein Gastbeitrag.“ (FAZ Online, 8.1.2021)
Gleich zu Beginn verspielt der Autor meine wohlwollende Offenheit gegenüber einer (aufgrund des Leads erwartbaren) anderen Meinung, indem er versucht, sich anzubiedern. Seine Kritik habe „nicht das Geringste zu tun mit einem lebenslangen Engagement für Gleichberechtigung und sogar Gleichstellung von Frauen und sexuell besonders orientierten Personen.“ (ebd.)
Sogar Gleichstellung. Applaus!
Noch bevor er sämtliche bekannten sprachwissenschaftlichen Vorbehalte gegenüber dem Gendern (vom „falschen Glottischlag“ bis zum generischen Maskulinum) diskutiert, disqualifiziert er sich mit einem groben Irrtum, der befürchten lässt, die FAZ habe beim Lektorat gespart.
Er behauptet: „Der Genderstern wird in Wortformen eingefügt oder ihnen angehängt, um zu zeigen, dass sie sämtliche möglichen Geschlechter einbeziehen, auch sexuelle Orientierungen wie lesbisch, trans, queer, bi, schwul, inter, divers und andere.“ (ebd.)
Falsch. Der Genderstern schließt Jene mit ein, die sich nicht unter der männlichen oder weiblichen Form subsumiert fühlen. Also weder Bürger noch Bürgerin oder beides zugleich sind, oder sein möchten.
Zudem kennt Herr Eisenberg offenbar die Grundannahme der Gendertheorie nicht, dass Gender das soziale und Sex das biologische Geschlecht bezeichne, oder er weiß nicht, dass trans keine „sexuelle Orientierung“ ist, oder er hat nach „Orientierungen“ ein Komma vergessen.
Er weiß offenbar auch nicht, dass Homosexualität kein Geschlecht ist, sondern eine sexuelle Veranlagung, also Homosexuelle mit dem Genderstern per definitionem nicht gemeint sind, sich aber gemeint fühlen dürfen. Außerdem ignoriert er den Unterschied zwischen Sex und Sexualität. Ich dekliniere das kurz für ihn durch:
Ich bin ein schwuler Cis-Mann, also ein Mann, der mit Körper eines Mannes geboren wurde und nicht mit dem Körper einer Frau. Mein Körper ist (nur) mit den Geschlechtsmerkmalen eines Mannes ausgestattet => Sex. Im Laufe des Lebens habe ich gelernt, mich wie ein Mann zu verhalten, was möglicherweise daran lag, dass Mutti mir Autos zum Spielen gab und der Schwester Puppen = > Gender. In der Pubertät habe ich gemerkt, dass mich sexuell nur Männer anziehen und habe seither mit einigen gefickt. => (Homo)Sexualität. Auch als ich mit einem Transmann (ein Mann, den die Natur mit weiblichen Geschlechtsorganen ins Leben starten ließ und der sich angleichenden Operationen unterzogen hatte) Geschlechtsverkehr hatte, hatte ich homosexuellen Sex und blieb homosexuell.

Wahrscheinlich – déformation professionnelle – denken Linguisten, wenn sie das englische Gender hören, vorranging an Genus, das grammatikalische Geschlecht. Dies ist aber, ich erlaube mir den Kalauer, asozial.

a rose is a rose is a rose?

Ein weiteres Argument des Autoren ist, dass der Stern nichts außer den Stern sichtbar mache.
Das ist falsch, weil ein Stern in Texten auch (und meistens) als Verweis gebraucht wird und außerdem Zeichen unterschiedliche, auch neue Bedeutungen zugeordnet werden können.
Natürlich sind seine weiteren sprachwissenschaftlichen, vorwiegend grammatikalischen Einwände gegen das Gendern nicht grundsätzlich falsch. Aber wir leben in Zeiten der Transdisziplinarität. Sprache ist nicht die exklusive Domäne der Linguisten, die sich gerne als deren Hüter aufspielen.
Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht sage ich: Sprache dient der Verständigung.
Im Kunsttheoriestudium habe ich gelernt, dass alles Sprache ist, respektive Text. Alles wird ‚gelesen’, auch Bilder und Theaterstücke. (Vgl. u.a. Linguistic Turn oder Umberto Eco)
Seit dem Masterstudium Biografisches und Kreatives Schreiben wurde für mich die Sprache wieder stärker zur Kunstform, zu Dichtung und zur Selbsterkundung inklusive Selbstwirksamkeitserfahrung.

Tschüss Maskulinum

Vielleicht sind die Vorbehalte gegenüber sprachlichem Fortschritt auch nur Zeichen von Trauer, dass sich die Zeiten der generischen Männlichkeit genauso zu Ende neigen wie das generische Maskulinum passé ist. Ihr seid aber mitgemeint!
Es grenzt an trumpsches Quengeln, darauf zu bestehen, Frauen und Andere seien mitgemeint. Eine beachtliche Menge von Menschen fühlt sich aber nicht mitgemeint und eben darum experimentieren unzählige Schreibende mit neuen Formen.

Sterne in Wörtern sind keine Bedrohung, kein Angriff auf die Sprache, keine Giftpfeile gegen Cis-Menschen und die Gesellschaft. Sterne und andere Zeichen in Texten verweisen auf die poetischen Möglichkeiten von Sprache und Schrift. Sie zeugen vom Verhältnis und Verständnis der Beziehungen zwischen Sprache und Raum, zwischen Sprachraum und Schriftraum, zwischen dem Vorhandenen und den Lücken, dem Sichtbaren und Unsichtbaren, Gesprochenen und Ungesagten.

Das Ziel muss eine diverse Gesellschaft sein, keine rückwärtsgewandte und ausschließende.
Eine vielfältige Gesellschaft ist geprägt von Schubladenfreiheit, von gegenseitiger Neugier, Spielfreude, Kostümierung, Camouflage, vielleicht gar Verwirrspielen. Das Performative ist ihr Leitbild. Voraussetzung dafür ist Offenheit den Anderen gegenüber, nicht Ablehnung, nicht Hinterhältigkeit, nicht Misstrauen, nicht Missgunst, kein fieser Tratsch.
Humor ja.
Denn gegen bitteren Ernst gilt es auf beiden Seiten anzugehen. Pronomina dürfen nicht zu Fettnäpfchen werden und Gendersterne nicht zu Ninja-Wurfgeschoßen.
Zur Abwechslung fragen wir zur Begrüßung nicht: „Wie geht’s Dir?“ sondern „Wer bist Du heute?“.

Maison Du Futur

Max und Ben müssen Linguisten böse Geister austreiben und tanzen einen schamanischen Beschwörungstanz zur Anrufung eines Heiligen.
„Curare, Curare! Oh großer Szeemann! Curare, Curare!“
„I curate you“, murmelt der Großwesir am Kunsthimmel.
Es fängt an zu blinken wie der Strip in Las Vegas, güldene Wasserspiele explodieren, vom Palace steigt Cäsar hinab, legt den Lorbeerkranz nieder und seufzt, er wolle lieber einen Stern auf der Stirn als noch einen Tag länger dieses Geblätt auf dem Kopf tragen.

Eingangzitat:
Tobia Bezzola/Roman Kurzmeyer (Hrsg.): Harald Szeemann. with by through because towards despite. Catalogue of all Exhibitions 1957-2005. Edition Vodemeer, Zürich, 2007.

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