Rückgrat

I am large, I contain multitudes
Walt Whitman

50×50, Tag 39

50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).

Was bisher geschah: Ich überlegte, warum ich nicht Banker geworden bin und flog trotz Finanzkrise nach Israel. Dort tanzte ich in einem Club während im Gazastreifen Menschen starben. Ich besuchte Künstlerateliers und näherte mich so der Zerrisenheit dieses Landstrichs.
(Vortag: Böse Banken / Folgetag: Eat the Rich)

within you

2009
Als ich das erste Mal in Israel war (siehe Blogpost Böse Banken) begann der Gaza Krieg (2008-2009). Glücklicherweise lernte ich auf einem Atelierrundgang tolle Künstler:innen kennen und lud 2009 einige nach Berlin ein. Der Ausstellungstitel lautete „the answer is within you“. Im Pressetext schrieb ich dazu: „Er zitiert ein Lied von Ray Lamontagne mit dem simplen, mantraartig gesungenen Text «War is not the answer, the answer is within you. Love». Klar, diese Botschaft ist etwas gar romantisch-hippiesk. Und die eingeladenen Künstler sind, was ihr Werk angeht, keineswegs explizit politisch. Gemeint ist eher eine innere Welt, eine Form der gewaltfreien Auseinandersetzung, eine Gegenwelt und ein anderer Weg der Kommunikation. Anstatt den Konflikt in Nahost (direkt) zu thematisieren (oder irgendeinen anderen weltweit), geht es bei der Ausstellung vielmehr darum, israelische Künstler mit hiesigen zusammen zu bringen und diese zu einem Dialog anzuregen. Im Vorfeld der Ausstellung begannen die Künstler/innen (1), zu Paaren gruppiert, miteinander zu kommunizieren.“

Krieg ist aus

Vor „the answer is within you“ hatte ich im Frühling 2009 Isabelle Krieg zu einer Einzelausstellung eingeladen. Sie ließ Gras über Mobiliar wachsen::

„Krieg ist aus“, Isabelle Krieg, Installationsansicht, 2009

Kant

2020/2021
Mangels Reflexionsräumen wie Ausstellungen und Theater und des Gebots, soziale Kontakte auf ein physisches Minimum zu beschränken, fühle ich mich auf mich selbst zurück geworfen. Mein assoziatives Denken verknüpft zunehmend das Immergleiche, und das was einst Gesellschaft war, findet nur noch medial vermittelt statt.
„the answer is within you“ echot in meinem Kopf, vielleicht auch angesichts dieses Irren ennet des Teichs, des Wahnsinns allenthalben. Was für Bücher von welchen Theoretiker:innen, Philosoph:innen, Soziolog:innen, könnte ich denn noch lesen (etwa Sloterdijk?), mich darin meist bestätigt fühlen, oh ja, das Kapital, das Klima, der Kategorische Imperativ.
Keine Sorge, jetzt kommt nicht Faust, habe nun, ach! Phülosophie und dies und jenes, ich suche nicht den Augenblick, den schönen, ich weile schon fast 50 Jahr‘, gar nicht so übel. Obwohl.
Wohl ist es das Verweilen, oder die Pflege des Jardins, n’est pas, Candide?

Wenn die Welt bereist, die Liebe gefunden, den Konsum für schal befunden.

Krais

Die Antwort, wir ahnen es, ist in uns. Die einen zitieren Kant, die andern die zehn Gebote oder „Tu andern nicht…“. Wir wissen aber auch, dass uns inzwischen die Frage abhanden gekommen ist, deshalb diese Unübersichtlichkeit.

Mein Körper wird getragen von der Wirbelsäule, oder metaphorisch offener, dem Rückgrat.
Darüber lerne ich gerade viel, jede Woche in einem online Feldenkrais-Kurs der Künstlerin Yael Davids. Im März eröffnet im Migros Museum für Gegenwartskunst (2) in Zürich ihre Ausstellung One Is Always a Plural, kuratiert von Nadia Schneider Willen.

Ich liege wöchentlich einmal auf dem Rücken auf dem Wohnzimmerboden und konzentriere mich auf den Körper, was wie wo warum passiert, wenn ich die instruierten minimalen Bewegungen ausführe. Ich nehme ihn, besonders das Skelett „within me“ wahr.

Ich, wie wohl viele andere, bewege mich in der Regel einfach drauflos. Das ist, als spielte ich mit meinen Knochen täglich Mikado statt Marimba. Es gilt also, die Stäbchen vorsichtig auseinander zu lösen und zu sortierten. Bald ertönen Melodien.

Wie bei Feldenkrais geht es beim Schreiben um die Verbindung von Körper und Hirn.
Wir erlernen über Jahre Buchstaben zu schreiben und aneinander zu reihen. Dieser mechanische Vorgang ist tief mit unserem Denken verknüpft. Denken ist Bewegung. Stocken die Gedanken, stehen wir auf, gehen ein paar Schritte, oder gar auf einen Spaziergang, und der Gedankenmotor läuft sofort wieder. Ebenso vital ist Handschrift für das Denken.
Darum höre ich hier und jetzt auf, zu tippen, weil meine Finger noch den immer träger werdenden Gedanken davonlaufen. Wie sagt Yael immer: small movements!

Maison Du Futur

Schwanzvergleich

2033
Max zu Ben: Also auf die inneren Werte kam es Anfang der 20er Jahre nirgendwo mehr an. Du bist ja mit Internetporno aufgewachsen und Grindr, Scruff, Planetromeo, Wapo, Tinder, OKCupid und wie die Plattformen alle hießen, ich habe mich nie daran gewöhnt. Da zählte nur noch, was Dir zwischen den Beinen baumelt, ohne ‚nudes’ oder „pix“ oder „haste xx“ lief gar nix, überhaupt X. Zuerst waren alle L, das trieb sich überdurchschnittlich bestückt Fühlende zu XL, bald waren alle bei XXL. Sag, die römischen Zahlen, ist M nicht mehr als X und L, wo landen wir denn da, etwa bei 30cm durchschnittsdeutschem Schwanz? Nein, Schwanzbilder schickte ich nicht rum. Diese schlecht ausgeleuchteten Schniedelchen turnten mich so sehr an wie braune Bananen. In was für Grössenverhältnisse sollte man den Pimmel bitteschön setzen? Die Hand? Im Verhältnis zum altersbedingt immer tiefer hängenden Sack sah Meiner doch schon damals kurz aus. Manchmal sucht er den Schutz der Hoden, manchmal will er baumeln, besonders groß war er nie, keinen hat’s gestört. Formschön ist er, hast Du auch gesagt. Wo liegt der Reiz, wenn die Leute Dir als erstes ihr Geschlechtsteil vor die Augen hieven, wo die erotische Spannung? Jaja, schüttle nur den Kopf, Du Youporn-Kind, aber ich verstehe Dich. Nach zwei Jahren pandemiebedingtem Pornokonsum begann auch ich zu vergessen, wie es wirklich lief und meinte, Sex liefere Hermes in allen Konfektionsgrößen direkt an die Haustür. DingDong.

(1) Gili Avissar, Jenny Brockmann, Nicolas Y Galeazzi, Franziska Furter, Roey Heifetz, Charlotte Hug, Tomer Sapir, Jonathan Touitou

(2) Das Museum ist eine Institution des Migros-Kulturprozent. Ich arbeite seit 2002 ebenfalls in unterschiedlichen Funktionen für das Kulturprozent. 2002 fing ich während des Kunsttheoriestudiums an, an der Museumskasse zu arbeiten.

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