Liebe Erziehungsberechtigte*
Immer schon absolut modern gesinnt (Rimbaud zwinkert), gendere ich *Euch* in meiner Ansprache.
Ich freue mich, streiten wir heute um den Genderstern. Bis dahin war es ein weiter Weg und bis auch noch der letzte ungegenderte Sturkopf begriffen hat, dass Leben Vielfalt hervorbringt, ist es noch ein langer. Ich marschiere seit meinem Coming Out vor 30 Jahren für Gleichberechtigung durch viele Städte dieser Welt. Ich erinnere mich an wütende Katholiken am Straßenrand in Luzern, an Verbotsversuche des Sittener Bischofs, aber vor allem erinnere ich mich an demonstrierende Mütter und Väter von queeren Kindern an der Mutter aller Prides, Mitte der Neunziger in New York.
Mein Unterkiefer bebte, zu bewegt zum Weinen.
Gestern an der Pride in Zürich ging es mir ähnlich, als ich plötzlich umringt war von tausenden tanzenden Teenagern, die Whitney Houstons I wanna dance with somebody mitsangen.
Noch nie sah ich ein so junges, knapp geschlechtsreifes Publikum an einer Pride.
Liebe Eltern, das sind Eure Kinder, dachte ich.
Liebe Eltern, sorgt dafür, dass sich kein Kind jemals mehr ausgestoßen fühlen muss, weil es anders ist.
Liebe Eltern, zieht eine sexuell und geschlechtlich selbstbewusste Generation auf.
Liebe Eltern, verringert das Leiden und kämpft nicht an gegen die Natur.
(Ihr habt sowieso keine Chance, weil die Natur, die tut was sie will.)
Liebe Eltern, Anderssein, Schwulsein, Lesbischsein, Queersein, Transsein, Irgendwassein ist nur ein Problem, weil/wenn Ihr eines daraus macht.
Liebe Eltern, tretet ein für eine Gesellschaft, die Eure Kinder liebt, egal wer oder was sie sind.
Am 26. September könnt Ihr mit dem Ja zur „Ehe für Alle“ nicht nur ein Zeichen für den queeren Nachwuchs setzen, sondern auch gegen rechte und religiöse Fundis.
Für freie Liebe und gegen den Hass!
Ach, liebe Eltern, was rede ich von Liebe.
Meinen Schmerz über die vielen verlorenen Jahre habe ich in Beton gepackt wie den explodierten Atomreaktoren in Tschernobyl. (Zeitlich korreliert der Super-GAU mit meinem sexuellen Erwachen.)
Gestern spürte ich die Strahlung wieder, als ich Eure Kinder sah.
Wie wäre es gewesen, wenn schwul/Schwuchtel/schwule Sau auf dem Pausenplatz und beim Fußballspielen keine Schimpfwörter gewesen wären?
Wie wäre es gewesen, wenn ich ganz selbstverständlich Anschluss an Meinesgleichen gefunden hätte, weil es in der Schule queere Schülergruppen gegeben hätte, unterstützt vom Lehrpersonal?
Hätte ich mich nicht in Grund und Boden geschämt, weil ich einem Angebeteten aus der Parallelklasse, einem frühreif-sportlichen Orientierungsläufer, einen Brief geschrieben habe?
Keinen Liebesbrief, so verwegen war ich nicht.
Aber ich trug ihm an, mit mir joggen zu gehen.
Wahrscheinlich war Fummeln mit Felix am Waldrand meine erste sexuelle Fantasie.
Was wäre wenn…
(meine Fantasie damals so selbstverständlich hätte Realität werden können wie Eure Fantasien?)
(ich anstatt zu lernen, meine Fantasien zu unterdrücken, sie frei hätte entfalten können?)
(usw.)
Solche Erinnerungen blitzten auf, als ich Eure Kinder um mich tanzen sah.
Ich bin Fünfzig und meine Liebe ist immer noch nicht selbstverständlich, nicht gleichberechtigt.
Darum werde ich jährlich auf die Straße gehen.
Auch wenn Mann mich eines Tages schieben muss.
Lieber Urs,
deinen Beitrag las ich heute beim Wachwerden (war spät gestern), und er hat mir sooo gut getan. Bitte geh weiter auf die Straße und gib deinen Anliegen eine Stimme! Ich versuche das auch, so lange mich die Trauer nicht überrollt.
Gerade bewege ich mich in eher konservativen Milieus, auf dem Land, aber auch im Job (bislang hielt ich Ökobauern und -winzerinnen für aufgeklärter). Mein Buch über die jüdische Bevölkerung in meinem Heimatort wollte ich gerade beim Verlag abgeben, da meldet sich ein weißer alter Mann, Dr. der Theologie, den ich um ein Vorwort gebeten hatte. Über Unrecht und Ausgrenzung solle man überhaupt und zumal nach 80 Jahren nicht mehr sprechen. Und dann das Gendern in meinem Text. Zitat: „Die modernen weiblichen Sprachformen führen nicht zur Verehrung der Frau.“
Gestern Abend habe ich etwas Verrücktes gemacht. Ich war auf einem Treffen des Jahrgangs 70/71 im Städtchen, zu dem mich ein Bekannter eingeladen hatte. Die Gesprächsthemen waren wie zu erwarten fremd für mich, was machen die Kinder?, wie wird ein Gottesdienst ohne Wandlung möglich sein? (der katholische Pfarrer wechselt ins Bischöfliche Ordinariat und es wird zunächst keinen Ersatz geben!), wie lief die Scheidung bei dir? Das Essen war gut. Später echauffierte sich eine Frau über das Gendern, und die anderen am Tisch stimmten ihr alle zu. „Also mich stört es nicht, wenn mich jemand mit ‚Sehr geehrte Herrschaften‘ anspricht!“ Ich: „Vielleicht aber andere?“ – „Ihr Problem.“ – „Sollten wir nicht versuchen, eine Sprache zu finden, die niemanden ausgrenzt?“ – „Sag mal, Tine, wie läuft es denn mit dem neuen Traktor?“
Damit war das Jahrgangstreffen für mich beendet, ich lechzte nach einem neuen Schoppen, und nach dem Thekengang ging ich einfach zu anderen Bekannten (das Treffen fand im Rahmen eines kleinen Stadtfest statt) und hatte noch ein bisschen Freude am Anderssein.
Wenn ich noch kann, dann schiebe ich dich über die Pride. Danke für deine Wortmeldung.
Herzliche Grüße: Amy
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Liebe Amy
Wie sehr ich dich in jedem deiner Worte spüre und wie gut das tut!
Hätten wir nicht alle etwas zum Thema Traktor zu sagen? ;-)
Du hast/willst ein Buch bei einem Verlag abgeben?
D.h. es gibt bald mehr von deiner Sprache?
Ich wünsche dir nach dem Jahrgangserwachen einen guten Wochenstart!
Herzlich, Urs
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Lieber Urs,
vielen Dank!
Kaum zu verstehen, wie schwer es noch immer so vielen Menschen fällt, die Vielfalt zu feiern.
Dabei feiert, wer die Vielfalt feiert, doch immer auch sich selbst…
Ich jedenfalls feiere Dich deinen Gruß an die Eltern!
Liebe Grüße
Mo…
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Liebe Mo, diesen Sommer ist es dann soweit, ich könnte heiraten… :-)
Herzlich, Urs
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Yeah, na dann, auf geht’s! 😄
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