6) Gib mir Deinen Duft ich geb Dir meinen

Von einer sprayenden Seniorin, Waffenhandel und Händen, Polyester und Parfum.

sechstesfoto
© Massimo Spada. Studio preparatorio per immagine.

Eine 86-Jährige Aktivistin nimmt am 11. April in Bern eine Spraydose in die Hand und sprüht auf eine Baustellensperrwand vor der Schweizerischen Nationalbank (neben dem Bundeshaus, dem Parlamentsgebäude der Schweiz, gelegen):

GELD FÜR WAFFEN TÖTET

Ein Hoch auf die Zivilcourage von Louise Schneider für ihre medienwirksame Aktion!
20min.ch schreibt:
„Der Sprecher der Schweizer Nationalbank, Walter Meier, stellte unlängst gegenüber der NZZ klar, dass die Nationalbank keine Aktien von Firmen erwerbe, die international geächtete Waffen produzierten, grundlegende Menschenrechte verletzten oder gravierende Umweltschäden verursachten.
Dass die Nationalbank im letzten Quartal mehr in Atomwaffenproduzenten investiert habe, sei ein Automatismus der Anlagen und kein strategisches Vorgehen.“
(20min.ch „86-jährige besprayt Nationalbank – abgeführt„, 11.4.2017)

Aha. Na dann. Töten tun ja andere.

Gehandelt hat auch der italienische Künstler Maurizio Cattelan. Der ließ 2010 kurzerhand einen Stinkefinger mit dem schönen Titel „L.O.V.E.“ vor die Mailänder Börse stellen:

799px-L.O.V.E.
Foto: By Lorenzo Gaudenzi (Own work) CC BY-SA 4.0

Dieser Blog-Eintrag sollte eigentlich mit einem anderem Bürgerschreck beginnen. Das Titelfoto mit dem Flacon „Pour Lui“ in fein manikürierten Männerhänden ließ mich an Polyester von John Waters denken; Zuerst an Modeheftchen, wo man (früher) am Papier rubbeln konnte, um einen beworbenen Duft zu riechen. Darauf kam mir der Odorama-Film von Waters in den Sinn. Dazu hatte man im Kino eine Kartonkarte und wenn im Film eine Nummer aufblitzte, musste man auf dem entsprechend bezifferten Kreis reiben und es stieg einem ein Wohlgeruch oder Gestank von Kotze und Kot in die Nase.

Gestunken hat es sicher auch im Auditiorium, wo anno 1968 Wiener Aktionisten vor Publikum geschissen, gekotzt und gepisst haben. Mehr über Exkremente in der Kunst ist hier nachzulesen: Wie wir verlernten, uns über Scheisse zu empören.
Nicht erst als Charlotte Roche Feuchtgebiete erkundete, hat die Kunst (der Scheisse) ihr Bürgerschreck-Potenzial verloren. Das Bürgertum ist seit jeher gewohnt, in der Kunst nicht nur sich selbst zu repräsentieren, sondern auch einen Spiegel vorgehalten zu kriegen. Bildungsbeflissen müht es sich ab, Kunst verstehen zu wollen und vereinnahmt, ja verinnerlicht jede Provokation. Und es schaudert gerne ein bisschen kathartisch, angesichts seiner selbst.

Doch nun vielleicht noch etwas zu Wohlgerüchen.
Bei Ihnen zu Hause riecht das ganze Treppenhaus nach Rasierwasser, wenn der Nachbar zur Arbeit geht.
Sie haben immer ein kleines Probefläschchen „Eau de Plume“ dabei und besprühen sich damit gerne die Halsschlagadern, morgens in der U-Bahn.
Im Sommer, in der ofenheißen Tram. Der Wagen schaukelt. Reflexartig greifen Sie nach einem Haltegriff, ziehen den Arm aber sofort zurück, pressen die Achseln zusammen und steigen beim nächsten Stopp aus.
Im Büro. Pause. Die Kollegen wollen aufs Dach und warten vor dem Aufzug. „Ping“, die Türen gehen auf und „Poison“ umwölkt die Wartenden.
Sie halten beim Betreten des KaDeWe den Atem an, eilen auf die Rolltreppen zu und retten Sich, der Ohnmacht nahe, vor dem Duftgewitter in die 1.Etage.

A propos Deodorant (no comment):

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Foto © Urs Küenzi

Da müssen wir SOFORT mahnend den Finger erheben!

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Rechte Hand der Statue Kaiser Konstantins, Kapitolinische Museen, Rom © Public Domain

Endlich werden wir erlöst vom Vögelchen Vanessa Paradis im goldenen Käfig (worauf Al Pacino gleich den „Scent of a woman“ vermisst).

Zum Schluss singt Gianna Nannini „Voglio il tuo profumo„.
Dazu wippend und an einem Glas Campari nippend, sitzt Sophia über den Dächern Roms. Das Telefon gongt. Sophia öffnet den Messenger und sieht unter

😘

das Foto. Sergios zarte Hände halten seinen Lieblingsduft. Sophia kann ihn riechen. Sie kann seine Hände spüren. Sie…

Pieep.

Oder: Im Frühling im Duft von Bäumen schwelgen.

IMG_8379.JPG
Foto © Urs Küenzi

9 Kommentare

  1. Lieber Urs, zu Wohl- und weniger-Wohl- Gerüchen und Düften fällt mir sofort das Parfüm von Patrick Süskind und der Film Der Duft der Frauen mit Al Pacino, 1992, und mein Büro, wenn die unterschiedlichen Menschen kommen und noch lange nachdem sie gegangen sind und ich hinter ihnen das Fenster aufgerissen habe, ihre Duftmarke hinterlassen, nicht immer Markendüfte … Da lobe und liebe ich doch meinen Kaffeeduft, der gerade neben mir steht,
    Kaffeeduftende Grüße,
    Sabine

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  2. Lieber Urs,
    ich finde, keiner erhebt den Zeigefinger so charmant wie Du und bringt es dabei noch so sehr auf den Punkt.
    Mein Gänsehautmoment diesmal war aber dieser winzige Sophia-Moment. Wie schaffst Du es nur, in diesen Blitzmomenten so viel Stimmung unter zu bringen. Ich wünsche mir jedenfalls ein Sergio-Sophia-Buch. :)
    Und apropos „Duft“. Ich musste an den stinkenden alten Ron denken, eine Figur aus Terry Pratchetts Scheibenweltromanen. Dessen Geruch war quasi eine eigenen Persönlichkeit, die immer schon weit vor Ron durch die Straßen wanderte und erst Stunden nach ihm wieder ging…

    lg. mo…

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    • Liebe Mo,
      Vielen Dank für den Buchtipp!
      Mal schauen, wie sich die Geschichte mit Sophia und Sergio entwickelt. Diesmal hatte ich aus Platzgründen nur sehr wenig geschrieben. Das half aber offenbar, Dir Gänsehaut zu bereiten :-)
      Herzlich, Urs

      Gefällt 1 Person

  3. Lieber Urs,
    über diesen Satz „Dass die Nationalbank im letzten Quartal mehr in Atomwaffenproduzenten investiert habe, sei ein Automatismus der Anlagen und kein strategisches Vorgehen.” krieg ich mich erst mal nicht mehr ein. Da entblödet sich so ein Banker nicht, lauthals zu schreien: „Ich wars nicht, ich wars nicht,“ während er das kleine Atombömbchen zärtlich in den Händen wiegt. Nicht zu fassen!!! Aber eigentlich geht es ja um Duft. Am schlimmsten finde ich es, wenn mein Operngenuß durch das penetrante Shalimar der Sitznachbarin gestört beeinträchtigt wird. Und noch eigentlicher geht es um Sophia und Sergio, ich sehe Sophia träumend vor mir, den Duft von Sergio in der Nase. Mehr davon, bitte….
    Liebe Grüße
    Anne

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  4. Lieber Urs,

    die Geschichte der betagten Sprayerin hat mich sofort wieder in deinen Text hineingezogen… ( natürlich hat die Überschrift auch ihr übriges dazu beigetragen) Für Mut und ein Aufbegehren ist es nie zu spät im Leben – das ist die gute Botschaft dahinter für mich .. Und wieder verstehe ich, dass wir umgeben sind von Geschichten, die erzählt werden wollen…

    Liebe Grüße

    Hedda

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  5. Lieber Urs,

    wie toll, dass man sich ein ganzes Lebensgefühl mit einem Sprühstoß zu eigen machen kann – so wie uns die Werbung allgegenwärtig suggeriert. Ich selbst mag kein Parfüm – und bin auch schon oft mit angehaltenem Atem durch die Duft-Narkose-Wolke im Kaufhaus gestürmt.
    Und ich werde Faust bei der nächsten Gelegenheit sofort petzen, wie ungeheuerlich dreist mit seinem Namen Kommerz betrieben wird.
    Wo wir gleich bei der Kunst wären. Es wundert nicht, dass in der Kunst nicht die Wohlgerüche, sondern die Exkremente zum Thema gemacht werden. Danke für die interessanten Links.

    Die Duftbegleitung von Kino-Filmen hat sich ja (zum Glück) nicht durchgesetzt.
    Ich war vor Jahren mal in der mittelalterlichen Burg von Bitche (der Ort heißt wirklich so, liegt in Frankreich gleich an der Grenze zum schönen Zweibrücken in der Pfalz), wo die Ausstellungsräume auch mit Gerüchen angereichert wurden – im Pferdestall roch es nach Heu, im Lazarett nach Eiter…

    Aber wie schön, dass du mit dem Blütenduft endest – am wohltuendsten sind doch die natürlichen Düfte. Und der Geruchssinn ist für den Menschen von großer Bedeutung. Das könnte sicherlich auch Al Pacino in „Scent of a woman“ bestätigen (ich liebe diesen Film).
    Kennst du den Film „Perfect Sense“ (mit Ewan McGregor u.a.), in dem die Menschen nach und nach alle ihre Sinne verlieren, zuerst ihren Geruchssinn? http://www.imdb.com/title/tt1439572/
    Hat mich nachhaltig beeindruckt.

    Vielen Dank für deinen all-sinnlichen Beitrag.

    Herzliche Grüße
    Ulrike

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