10) Tango Africano

Serie Eldorado

Shimmy klein
Shimmy Club, Casa Suiza, Buenos Aires

Nach dem Görli ist mir nicht nach Büßen sondern nach kultureller Aneignung meiner deutschen Heimat.

Als ich gestern spät abends auf dem Nachhauseweg den Görlitzer Park querte – ich war wie so oft bei einem schweizer Freund zu Besuch – am Tisch waren diverse Nationen versammelt – als ich also den Weg beschritt, auf dem dunkle Dealer Spalier stehen, vernahm ich da und dort ein italienisches Wort im Afrikanischen. Ein „guarda“ (schau!) genügte und er schipperte auf Lampedusa zu, der lottere Kahn; das Dorf, Geld gesammelt, auf dass die Flucht eines Auserwählten gelänge, gierige Schlepper, Menschenhändler, Wegelagerer in der Wüste. Ich schritt schneller. Doch die Doppelmoral hatte die Witterung aufgenommen und heftete sich an meine Fersen.

Wenn es ein Bußritual gäbe, mich von der Mitschuld an der Misere dieser Welt zu reinigen, wenn es ein Mittel gegen den wehleidigen Weltschmerz gäbe, nützen würde es niemandem außer meinem Ego, genannt Seelenfrieden.

Mir war nicht nach Büßen. Vielmehr war mir der Heimweg Inspirationsquelle für den Einstieg in diesen Blogpost (wie immer in der Serie Eldorado ausgehend von Vrenis Bild).

Shimmy Club

Vor hundert Jahren war die Schweiz noch nicht eines der reichsten Länder der Welt. Hunger war allgegenwärtig, die Bevölkerung mausarm. Tausende schifften über die Ozeane, suchten ihr Glück in Amerika.
In Buenos Aires gründete die Schweizerische Philanthropische Gesellschaft 1861 das Casa Suiza. Von den 1920ern bis Ende 70er gab es im Haus den legendären Shimmy-Club, ein Eldorado afro-argentinischer Kultur. Hier tanzten Weiße und Schwarze zusammen bis letztere um Mitternacht mit „¡afuera los chongos!“-Rufen die ganze Tanzfläche übernahmen.
Tanz bringt die Menschen nah aneinander, die verschiedenen kulturellen Einflüsse verschmelzen. Der Tango Argentino hat afro-lateinamerikanische Wurzeln, u.a. Candombe. Übrigens auch gleichgeschlechtliche: in Buenos Aires tanzten vormals nicht nur die Matrosen mangels Frauen zusammen.

Kulturelle Aneignung

In letzter Zeit werden „kulturelle Aneignung!“-Rufe auch außerhalb der USA lauter. Kurz, geht es darum, dass sich die (weißen männlichen) Privilegierten missbräuchlich die Kultur der Minderheiten aneigneten und diese dadurch erst recht ausbeuteten.

Kultur, die sich weiter entwickelt, ist immer fremdgeprägt, sie bedient sich rundum, sie sampelt, sie masht. Und sie hat ihren Ursprung in der Regel in der Subkultur. Auch die Avantgarde ist per definitionem ein Vorausschreiten Weniger. Was heute massentauglich ist, war gestern Punk. Das Aufgehen im Mainstream fast aller kultureller Errungenschaften regt umso mehr die Phantasie des Undergrounds an, sich davon abzugrenzen. Natürlich ist heute dieses Ping-Pong kapitalistisch beschleunigt (woran Kritik durchaus berechtigt ist).
Picasso, der alte weiße Macker, sagte (und praktizierte ausgiebig):

Gute Künstler kopieren, große Künstler stehlen

Spannend an dem Zitat ist die implizite Feststellung, dass es keine originäre Kunst gibt. Schließlich kommt kein Kind auf die Welt und schöpft gottgleich das Neue.

Isolationshaft

Die Menschwerdung ist ein einziger Aneignungsprozess von Kulturtechniken.
Kultur ist immer nur eine Variation des Höhlenmalerei-Themas, des Erzählens am Feuer, des drumrum Tanzens zu Trommelklängen und Gesang, über die Jahrtausende regional vervielfältigt und verfeinert.
Trotz Ähnlichkeit trägt jeder einzelne Mensch einen anderen genetischen Code in sich, hat andere Möglichkeiten und Vorlieben, sexuelle Orientierungen und Geschlechtlichkeiten. Deshalb müssten wir in einer globaleren Gemeinschaft eigentlich nicht um unsere Identität fürchten. Angst macht uns hingegen das Wissen darum, dass unsere Hirne trotz allen Versuchen nie miteinander verbunden werden können; sie sitzen in Isolationshaft. Daran ändert die digitale Vernetzung nichts, ist sie doch nur eine global erweiterte Aufmerksamkeitszone für unsere social-media-aufgeblasenen Egos.

Aus der Isolation für kurze (illusionäre, aber trotzdem Realität konstituierende) Momente zu entkommen schaffen wir, wenn wir miteinander tanzen, reden…. vögeln. (Ohne Grapschen, Männer!)

links Heimat rechts

Dass nun die Identitären von rechts und links nach Leitkultur und Heimat dürsten, verwundert nicht, ist aber besorgniserregend. Es bringt nichts, den Rechten den Heimatbegriff abspenstig machen zu wollen und zu besetzen, das hat anno 1929 schon Kurt Tucholsky getan:

Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.

Ja, auch ich bin Teil dieses Landes, in dem ich seit zehn Jahren lebe, auch der dunkelhäutige Hermesbote, der gerade wieder Pakete für die türkischen Nachbarn bei mir abgegeben hat und die Dealer im Park sind hier zu Hause. Einige freiwilliger als andere. Aber alle sind wir hier, waren früher woanders, vielleicht auf dem Dorf, vielleicht in Hamburg, vielleicht in Ouagadougou, vielleicht entkamen wir knapp einer Bombe in Damaskus, vielleicht haben wir hier einen vielversprechenden Job in einem Startup, vielleicht sind wir Künstler vor dem großen Karrieresprung, vielleicht sitzen wir in Spandau und träumen vom Recall für DSDS.

Eines ist klar: Wir alle haben höchst unterschiedliche Vorstellungen von Heimat. Wir werden nie einen gemeinsamen Nenner finden, schon gar nicht, wenn wir Heimat rückwärtsgewandt betrachten. Wenn schon, müssen wir sie uns zukunftsgerichtet und utopisch ausmalen. Ein trockenes „Wir schaffen das“ reicht nicht.

Zum Schluss noch dies: Der Tango kommt aus Finnland. Behauptet zumindest Aki Kaurismäki im Dokumentarfilm Mittsommernachtstango

8 Kommentare

  1. Lieber Urs,
    schön, dass Du am Ende noch den Bogen zum finnischen Tango schlägst. Das ist ein wunderbarer Film, der eben keine Utopie beschreibt, sondern ein Vermählung von so scheinbar gegensätzlichen Kulturen wie die nordische und die südamerikanische. Unbedingt sehenswert..
    Liebe Grüße
    Anne

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  2. Lieber Urs,
    dein Schreibstil ist einer, den ich sehr mag, pointiert, klar und mit vielen neuen und unerwarteten Perspektiven, die sprachlich *messerscharf* daherkommen:

    Heimat
    haben wir
    alle aber woanders
    das war gestern heute
    zuhause

    Viele Grüße,
    Sabine

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  3. Lieber Urs,
    tango, ich berühre. Tango für alle! Berühren wir uns also, wir Fremden, Heimatlosen, Sehnsüchtigen. Die aus meiner Feedbackgruppe wissen es schon. Mein Liebling ist der Tango Moselano: Mit meinem Papa, nach der Küchenschlacht, in fettigen, befleckten Schürzen, immer um den Restaurantherd herum. Danke für die Erinnerung. Deine Amy

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