Eine Frühlingsnachts-Sexfantasie

Parce que moi je rêve, moi je ne le suis pas.
Weil ich träume, bin ich nicht.

Wahrscheinlich war es so, dass er sich in Gefahr wähnte, einer Frühlingsdepression anheimzufallen, weil immer dann, wie meistens in Berlin, wenn die Temperatur unerwartet von ganz kalt zu angenehm warm wechselt und die Menschen auf der Straße nicht mehr in viele Kleidungsstücke eingewickelt von A nach B hetzen, mit griesgrämigen, wann hört dieser Winter endlich auf Gesichtern, eingezogenen Schultern und gesenkten Köpfen, sondern leichtbekleidet, Beine und Oberarme entblößt – es waren vor allem die Oberarme, die sein Blut in Wallung brachten, so hinterrücks kann nur ein Frühling die Libido überfallen, zu spät, die Lüste sind geweckt, die Vögel zwitschern, das Grün explodiert, die Hormone in der Luft lösen sexuellen Heuschnupfen aus und das eben, das brachte ihn jährlich an den Rand einer Frühlingsdepression, nicht wirklich einer Depression, eher einer Verstimmung, saisonal so unpassend wie eine Sommergrippe.

Vielleicht war’s auch bloß ein Anflug von Melancholie, angesichts des rundum erblühenden Lebens, des allgemeinen Aufbruchs in ein neues Jahr, der Feier des Sprosses, des Säens und Pflanzens, des gähnenden, vor der Höhle seine Glieder streckenden Bärs, dieser Aufbruch war’s wohl, der ihn melancholisch stimmte, so wie vor einer großen Reise der Bammel zu obsiegen droht und daran zweifeln lässt, ob die Entscheidung zu Verreisen richtig war, bis nur noch Nervosität herrscht, die Koffer schließlich doch gepackt vor einem stehen und los geht’s.

Und so wie er sich in der Fremde erstmal fremd, je exotischer das Land, auch auffällig und beobachtet vorkommt, vielleicht gar schüchtern ist, sicher zurückhaltend aber trotzdem neugierig, so tappte er an diesem ersten Frühlingstag etwas unsicher auf die Straße, blinzelte in die Sonne, noch war die Sonnenbrille ungewohnt, zweifelte, ob er nicht doch eine Jacke hätte anziehen sollen und schlenderte zum Körnerpark, mit Herzklopfen, ja tatsächlich klopfte ihm das Herz, denn so ein Ankommen im Park, mit der einen zentralen Wiese, umrandet von Wasserspielen und Blumenrabatten, am Fuße einer Orangerie – in Paris fühlte er sich dort, nicht in Neukölln, weit weg von dessen dreckigen Straßen, im Frühling wieder voller Obdachloser und Bettler, aus den U-Bahnschächten aufgestiegen wie Krokusse aus dem noch zögerlich grünen Gras. Das ist Paris und New York und London und Berlin; in den reichsten Ländern liegen die Verlierer des Kapitals auf der Straße, chancenlos trotz Aufstiegschancen, nicht jeder taugt zum Tellerwäscher und so engmaschig ist das sozialstaatliche Netz eben nicht. Oh Deutschland, dachte er, nicht einmal für Alle ein Dach über dem Kopf trotz Haushaltsüberschuss und Superreichen – so ein Ankommen im Park im Frühling lässt anfänglich immer auch ein bisschen seinen Atem stocken, angesichts der Menschenmassen.

Also atmete er einmal tief ein und aus, reckte den Hals, streckte sich aufrecht, bereit für den Auftritt, und betrat die zentrale Wiese, Rasen betreten verboten, als würde sich in Berlin jemand an Verbote halten, und breitete inmitten der scharenweise Frühlingserwachten seine karierte Decke aus, eng hier, Alle draußen, Hipster, Kopftuchmädchen, Trainingshosenjungs, Jungfamilien, kein Parkklischee fehlt, tatsächlich spielten Zwei Frisbee, natürlich über die Köpfe der anderen hinweg, zum Glück lag er außerhalb der Flugbahn, der Beat aus der Boxe nicht unweit seines Ohrs störte, was soll’s, er lag, er war angekommen, was brannte die Sonne schon so stark, T-Shirt aus, nein, noch wagten es nur die Zeigefreudigsten, Ärmel hochgekrempelt aber immerhin und die Schuhe aus, Socken aus – dieses Empfinden wenn die Fußsohlen zum ersten Mal nach einem langen Winter mit Rasen in Berührung kommen, Erinnerungskaskaden an all die Frühlinge, es sind mittlerweile nicht wenige, die er erlebt hat, dieses Gefühl, als er von den zwickenden gestrickten Schafswollsocken auf leichte baumwollige wechseln und der erste Tag an dem er barfuss raus durfte, wie jedes Kind in der Siedlung, als hätten sich die Mütter abgesprochen. Endlich keine Schnürsenkel mehr binden.

Aber hier im Park, hier lagen auch viele Liebespaare, um die Wette turtelnde, dabei war doch gerade erst Frühlingsanfang. Das löste Sehnsucht aus, das war es also, Sehnsucht, nicht Melancholie, nach Nähe, nach Zärtlichkeit, nach Paarungsverhalten, nach Männerhaut, sonnengewärmter, und er lag in diesem Park mittendrin, alleine, zwischen denen, deren Früchte ihre ersten Schritte taten unter allgemeinem Ah! und Oh! ihrer Mamas und Papas und denen, deren Vereinigung dereinst Früchte tragen würde, noch vor Jahresfrist vielleicht gar, und er fühlte sich jetzt auch alleine, befremdet, wie Einer, der beim Tanz unter dem Maienbaum wieder Keinen abkriegen würde, wie lange noch, wie lange noch, fragte er sich und sagte sich, hör auf, nicht hier, nicht Er.

Bald würde er ein Date haben, keines über eine Kennenlern-App organisiertes, in letzter Minute wahrscheinlich doch abgesagtes, nein, er würde einen treffen, mit dem er mal was hatte, in einer dieser Nächte, als er wie ein räudiger Hund unterwegs gewesen war und auf dieses Augenpaar traf, tatsächlich eines Augenarztes auf Berlinbesuch, auf wen man nächtens so trifft, gutsituiert, vielleicht gar reich, kurz flackerte eine Statusveränderungsoption auf, was wäre, wenn er einen Vermögenden zum Partner hätte, er der Kreative, der Bohemien, Möchtegern immerhin.

Sie saßen also auf dem Sofa, an einem Freitag den Dreizehnten, der ihm nicht Pech, sondern ein bisschen Glücklichsein bescheren sollte, wir werden gleich sehen, und er träumte ganz kurz, wirklich nur kurz, dieses Luxusträumchen, während der andere, es war noch kaum Zeit verstrichen, vorschlug, ins Lab zu fahren, dorthin, wo Männer sich Freitags Two for One betrinken und Sodom und Gomorra nachspielen, ganz ohne Salzsäule, erstarren tut dort Anderes.
Also los, warum nicht, der Nicht-Berliner wollte was erleben, der Wahl-Berliner gab die Animierdame, aber Achtung, warnte er, die verwandelt sich, einmal angekommen im Laboratory der pornographischen Tatsachen, zum läufigen Tier und so war es auch, ein zwei Drinks, auf in die Gänge, wo sich ihre Wege alsbald verloren.
Wie so oft an diesem Ort dachte er Nein, eigentlich braucht er keine Verrichtungsanstalt, keine schnelle Nummer, keine Orgie, einer reicht vollauf. Das Glück war ihm Hold, da stand ein Hübscher, nein, er saß an der Bar und lächelte ihn an. Lächelte ihn an!

Zu Hause, irgendwann, mit diesem Frankobelgier, was für ein Akzent, Französisch, Englisch, Deutsch, Sprachenwirrwar. Sieht nach Banlieu aus, Halskette, rasierter Kopf, wie ein erwachsener Junge von der Straße, wow, wie erregend, in den Augen eines reifen Mannes jugendlichen Leichtsinn aufblitzen zu sehen.
Die Nacht war schön, so wie so eine Nacht sein soll und sein muss. Der Morgen danach kommt immer, Nummerntausch, der Hübsche whatsappte ihm später ein Foto, kein anzügliches.

So liegt er also mit seinem Morgentee, japanischer Sencha, im Bett, draußen gießt’s in Strömen, hoffentlich wird das nicht wieder bis Herbst so gehen, er braucht einen schönen Sommer, einen endlosen Sommer am liebsten, und da sind wir angekommen, bei Madame Nielsen und ihrem romantischen Buch Der endlose Sommer – diese Sprache! diese Eleganz! diese Liebe! dieses Traumwandlerische! – das bei ihm auf dem Nachttisch liegt und das ihn elegisch stimmte und zugleich euphorisch und ihn, befeuert durch die in den Tag hinübergeglittene Erotik der vergangenen Nacht, zum Stift greifen und schreiben lässt.

Parce que moi je rêve, moi je ne le suis pas.
Weil ich träume, bin ich nicht.
(Aus Léolo, Film von Jean-Claude Lauzon, 1992, Zitat des Autoren Réjan Durcharme)

Ein sehenswertes, kurzes Interview mit Madame Nielsen.

 

 

 

 

6 Kommentare

  1. Lieber Urs,

    du bist ein verdammt genialer Erzähler! Ich stehe auf deine Art zu erzählen, folge dir gerne in deinen Worten und kann sehr viel auf meine Art und in meiner Welt nachvollziehen.
    Ich freue mich auf deinen ersten Roman!
    Wann kommt der raus?

    Liebe Grüße,
    Mia

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  2. … natürlich nur im Traum, hin zum nächsten. Und so liege ich erst neben dir im Körnerpark, trinke später den Grüntee mit dir – beim Hübschen hab ich weggeschaut – und sehne mich nach dem Sommer. Mitreißend geschrieben. Danke, lieber Urs! Auf bald: Amy, la rêveuse

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  3. Lieber Urs,
    ich bin völlig beeindruckt von Dir und Madame Nielsen. Dieser Post ist für mich bisher Deine sprachliche Meisterleistung. Was eine Sprachverzauberung, welch gelungener Satzbau. Die Melancholie der Frühlingssexsinfonie kriecht unter meine Haut und in Madame Nielsens Augen möchte ich versinken. Wenn es sein muss wage ich vielleicht sogar ein Tänzchen mit der Göre Tod und springe ihr dann aber ganz schnell wieder von der Schippe.
    Begeisterte Grüße
    Anne

    Gefällt 1 Person

    • Liebe Anne,
      Auch Dir vielen herzlichen Dank. Ich freue mich, hat Dich mein Blog begeistert. Das Buch von Madame Nielsen und sie selbst sind wirklich eine Wucht. Voller Lebensenergie, vielleicht gerade wegen der Göre Tod.
      Herzlich, Urs

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