Warnung: Das Ende dieses Posts ist nichts für schwache Nerven
Saigon, District 5, Binh Tay Markt in Chinatown, Güterberge neben Müllhaufen, Menschen kauern im Dreck, Fische schnappen in flachen Schalen nach Luft, Hühner an Leinen aus Schnur flattern und gackern, Plastikkitsch blinkt bunt, Kandiertes verlockt, Kaffee duftet, stapelweise Schachteln voller Krimskrams in engen Gängen, Waren per Lautsprecher in Endlosschlaufe angepriesen, Motorrädergestank, Lärm so laut, dass die Boxen im Berghain dagegen nicht ankämen, apokalyptische Gedanken, kein Entrinnen aus dem kollektiven Wahn, unsere Vernunftbegabung dem Konsum geopfert, nicht aufzuhalten, undwiderruflich, endgültig dem Untergang im eigenen Dreck geweiht.
Wie üblich bei Großstadtbesuchen, besonders Molochen wie Ho-Chi-Minh-City, trete ich mir die Füße wund, aufgerieben an Sandalenschnallen, sorge mich kurz um die Reinheit meines Blutes, hoffe, im Nécessaire ein Pflästerchen zu finden, antiseptische Crème habe ich dabei. Beschließe, meinen Spaziergang in den Abgaswolken zu beenden, sehne mich nach meinem Apartment mit AC, zücke mein Smartphone, öffne die hiesige App für Alles Grab, bestelle ein Motorrad, der Fahrer bremst wenige Minuten später grünbehelmt vor mir, streckt mir sein Handy hin, darauf mein Name, Yes, grätsche ungelenk auf das Bike, drücke den angebotenen Halbhelm auf meinen Kopf, gebe dem Fahrer mit einem gebrüllten OK zu verstehen, dass er losbrausen kann, das Schlängeln beginnt, das Hupen, das Ausweichen auf den Gehsteig, das Geisterfahren, das quer Hindurch, à bout de souffle, vorbei am Tatütata von Krankenwagen, an doppelstöckigen Nachtbussen und schwerbeladenen schwarz rauchenden Gefährten, warum tun wir uns das an, warum tauschten wir das lautlose reine Fahrrad gegen Dreckschleudern, warum nehmen die Menschen hier all dies Chaos so gelassen? Buddha wegen? Leben ist Leiden ohne Schmerzgrenze?
Ein Motorrad durchbricht die undurchdringlich scheinende Menge, hinter dem Fahrer einer mit bloßem, ölverschmiertem Oberkörper, laut rufend, auf seinem Schoß eine Frau, Pietà denke ich, gefahren wird hier in allen möglichen Haltungen, manchmal zu Fünft, zwischen die Erwachsenen Kleinkinder gequetscht, vorne zwischen den Beinen des Fahrers ein stehender Sprössling sich am Lenker festhaltend, meistens wonnig grinsend, kein Helm.
Die Pietà überholt uns.
Ich sehe den blutigen Fuß der Frau, ragt in den Verkehr, Haut hängt in Fetzen herab.
Der Fahrer kurvt, der Hintermann schreit verzweifelt, sie kommen erstaunlich schnell voran, sind bald aus dem Blick.
Würde ich beten, bäte ich um ein nahes Krankenhaus. Ich hoffe es profan. Ich denke an mein nichtig angeritztes Ferschen, denke an meine privilegierte Sicherheit und daran, dass ich diese hier arg ins Wanken bringe, auf dem Sozius eines höchstwahrscheinlich minderjährigen vietnamesischen Grab-Bikers, der sich, Fahrgelegenheiten anbietend digital versklaven läßt, der Halter hinten drauf. Immerhin ermöglicht die App auch Trinkgeld, ich kaufe mich frei von meiner Schuld. Aber anders komme ich doch nicht voran, in dieser Stadt, keine Metro weit und breit; ICH entschied mich gegen den Stillstand, wählte die Bewegung, das Reisen, das Sehen, das Riechen, das Fühlen der Welt, des Irrsinns, den ich weder suchte noch sehen wollte und in dem ich dennoch schwelge – atme tief ein, bevor es zu Ende geht, mit mir und mit uns allen.
(In welcher Reihenfolge auch immer).
Mögest Du, Mitmenschin mit zerfetztem Fuß, das neue Jahr, das vielleicht nur für mich morgen anfängt, mit einem frischen Verband in einem sauberen Bett, umringt von Deiner Familie und Blumen beginnen, mögest Du bald wieder emsig und ohne Hinken Deinem Leben nachgehen. Oder als Lotusblume Dein nächstes erfüllen.
Guten Rutsch.
Pietà.
Lieber Urs,
was für ein Abschlussbild für dieses Jahr: du auf dem Grab-Bike.
Und natürlich die dazu passenden Worte, danke dir, lieber Urs für die Essenz dessen, was für uns alle selbstverständlich ist und wir nur allzu oft gerne jammernd überkonsumieren,
trotzdem, pass bitte gut auf dich auf
und wir lesen und sehen uns 2020,
Mia
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und wie, meine treue Mia!
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Lieber Urs,
ich wünsche Dir ein gutes Hinübergleiten ins Neue Jahr und schließe mich dem Gebet für die Pietà an. Deine Beschreibung treibt mir den Gestank in die Nase und das Gewusel vor die Augen. Es wäre absolut nichts für mich, aber ich glaube, Dir gefällt diese Herausforderung. Feier das Leben und die Liebe auch in 2020.
Herzliche Grüße
Anne
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danke liebste Anne!!
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Lieber Urs,
habe das Großstadtgewusel gut vor Augen und kann fast die dicke Luft riechen. Mein Lieblingssatz: „Leben ist Leiden ohne Schmerzgrenze?“
Ich hoffe, du bist gut ins neue Jahr hinein gedüst. Wünsche dir pralles Leben und viel kreative Lust auch in 2020.
Herzliche Grüße
Ulrike
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Liebe Ulrike
Ich hoffe, auch Du bist gut im 2020 angekommen? Roaring 20ies wünsche ich Dir! Und bedanke mich für die kommentierende Begleitung.
Herzlich, Urs
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