Gekrümmte Zeit

Als Rechtfertigung, eher Erklärung, dafür, dass er vor dem Öffnen des digitalen Wortprozessors sein Genick mit Blick auf ein kleines Display überdehnte, Instagram, Facebook, Whatsapp, Planetromeo, Grindr, ein „sexyhunk“, 4,7 Km entfernt, hat sein Profil besucht, die Kirchenglocken läuten zwölfmal Mittag, aufgestanden war er um 6h, war im Fitnessstudio, inklusive Zirkeltraining für den Bauch, hielt wacker mit den Jungen mit, der latino-angehauchte Trainer könnte ein Transmann sein, mutmaßte er, die Umkleide betrat später tatsächlich ein Transmann, von einigen Gorillas in Unterhosen scheel beäugt, sich nie in den Raum drehend umziehend, vorsichtig, allen Mut zusammengenommen, schließlich ist das hier die Männergarderobe und er ein Mann, nur der Körper ist noch am Anfang der Anpassung, Geduld, bald wirst Du für einen hübschen Jungen gehalten, bald hast Du Dich an dieses unter Männern männlich performen Müssen, an dieses auf gar keinen Fall weiblich erscheinen dürfen gewöhnt, es wird Dich hoffentlich nicht vergiften – als Grund für seinen Widerwillen den Tag zu nutzen, die Woche geschäftig zu beginnen, den nahenden Workshop Schreiben im Hotel mit Inhalten zu füllen und stattdessen hier und jetzt meint, der Welt mitteilen zu müssen, dass er sich die letzten Tage täglich die Finger verletzt hat, Schnitt, Kratzer, Schürfung, also seine kleinen Wehwehchen im großen WWW verbreitet, wohl weil ihm, wie Millionen Menschen, die Anteilnahme eines Partners fehlt, der pflasterklebend die Wunden versorgte – als Auslöser für dieses Aufschieben des vermeintlich Wichtigen, des als Arbeit Geltenden, können mehrere Gründe aufgeführt werden.

Nach langer Südostasienreise wachte er letzte Woche endlich wieder in seinem Bett an der Karl-Marx-Straße auf, rollte sich aus den heimeligen Daunen, tapste in die Küche, tastete nach dem Lichtschalter und stutzte, weil ein Essstäbchen auf den grauen, Stein imitierenden Küchenbodenfliesen lag.
Es ist wohl wahr, dass er mit Stäbchen aß, sich noch ans Urlaubsfeeling klammerte, die dampfenden Garküchen Bangkoks, Hanois oder Saigons, auf niedrigen Plastikhockern an bodennahen Tischchen kauernd, die nach Ladenschluss die Straßen säumen, die Städte in ein Freiluftrestaurant verwandeln, in Vietnam gewürzt von Abgasen der Millionen Motorräder, die sich überall durchschlängeln, wo es Lücken gibt.
Wie das Stäbchen auf den Boden kam, darüber sinniert er bei grünem Tee.
Folgende Ursachen kommen in Frage:
Der Küchenraum krümmte sich nächtens, das Stäbchen rollte aus dem Geschirrabtropfgestell zu Boden.
Es ist ein zu allerhand Kunststücken fähiges Samurai-Stäbchen.
Er schlafwandelt.
Er hatte nächtlichen Besuch.
Am Vorabend lag er Dracula netflixend im Bett. Der von der BBC produzierte Dreiteiler mit diesem schleimigen dänischen Beau, bekannt aus dem palmengekrönten The Square, beginnt mit keckem Nonnenhumor und viel untoter Ironie, steigert sich in der zweiten Episode in ein pittoreskes, aber wenig überraschendes Blutbad nach dem Prinzip „who’s next?“ und endet im Dritten Teil so banal, dass angenommen werden muss, die Drehbuchautoren hätten mit Essstäbchen einen Fechtkampf ausgefochten und darob vor lauter Erregung das Script zerfetzt.
Weil er schleimig und dänisch zusammendenkt, erscheint zur Strafe neben seinem täglich faltiger werdenden Gesicht im Badezimmerspiegel dasjenige seines vergangenen dänischen Liebhabers, der im Januar vor einem Jahr kurz unvergänglich schien. Nicht, dass er diesem Untoten nachtrauerte, nein, doch, manchmal, die schönen schwarzen Augen, die ihn anstrahlten, wenn er morgens seine aufschlug, die vermisst er.

Eine weitere Koinzidenz lässt ihn werweißen, ob ihm das Schicksal mit der Latte aus dem Lattenrost seines Bettes winkt, die er nach seiner Rückkehr unter dem Bett liegend vorfand und ihn anregt darüber nachzudenken, wie wild der Sex des Paares, dem er die Wohnung untervermietet hatte, wohl gewesen war, in seinem Bett.
Was wohl, will ihm das Schicksal mitteilen, außer, dass er ganz dringend die Mattscheibe vor seinen Augen, die ihm das Denken, noch mehr die Freude an der Existenz vernebelt, weil er nicht nach Draußen sieht, in sich selbst gefangen, reinigen müsste wie die Fenster seiner Wohnung, die von oben bis unten von Fetthänden betatscht worden waren, was zum Teufel haben die temporären Bewohner in seinem Nest getrieben? (Die Scheiben wird er gleich, im Anschluss an diesen Text, putzen, Durchsicht wenigstens dort, mit zerknüllter ZEIT, alter Hausfrauentrick, keine Schmiererei.)
Über sein Schicksal wundern ließ ihn auch ein Klappstuhl, auf den er sich setzte, auf einem Balkon im 12. Stock eines Wohnhauses, Sicht auf eine Bucht und die Weite des südchinesischen Meeres, der Stuhl versagte ihm den Genuss, klappte zusammen, verdattert wohl beide, könnten die Atome eines Stuhls so zittern wie der an sein Steißbein Greifende.
Wir wissen es nicht, vermuten aber raunend, dass es auf die Minute genau zwei Wochen nach dem Stuhlsturz war, als er sich in seiner Küche, am Tag als er das Stäbchen auf dem Boden vorfand, an den Resopalküchentisch setzte und eine Schrecksekunde später auf Augenhöhe mit der Tischplatte fand.
Diese Geschichte könnte er nun als Gute Frage an das Magazin der Süddeutschen richten.
Wer ist verantwortlich für den Zusammenbruch und wer muss die Stühle ersetzen?

Ihn beschäftigen derzeit allerdings weniger materielle, sondern augenscheinlich metaphysische Aspekte des Alltags, in den er unter bedenklichen Vorzeichen nur zögerlich einzutreten wagt, denn heute stellte er zudem fest, dass die Zeit gekrümmt ist. Nicht dass er die Relativitätstheorie begriffen hätte, nein, er dachte nur daran, Batterien zu kaufen, um die Küchenuhr wieder in Gang zu bringen, wenigstens etwas soll laufen, wobei er bemerkte, dass der Minutenzeiger arg verbogen ist, sodass der Sekundenzeiger daran ganz kurz zitternd hängen bleibt und mit einem Hauch von Tick darüber springt, jede Minute um Millisekunden verlängernd.
Diese Entdeckung könnte ihn zu Freudentänzen anregen, hätte er doch mehr Zeit, ließe er die per Atomuhr errechnete Weltzeit außer Acht und richtete sich nach seiner Küchenuhr, so wie er Stunden gewann, als er zurückgeflogen kam aus Asien, dumm nur, dass er auch hingeflogen war, ein Nullsummenspiel diese Lebenszeitverschiebungen.
Tanzen, ja, tanzen möchte er, endlich, da er wieder in Berlin ist, jederzeit in die Disco könnte, irgendwo wummern in dieser Stadt immer Bässe, stattdessen schreibt er nur über den Wunsch. Was lässt ihn zögern, warum begibt er sich nicht stante pede in die Menge zuckender Leiber, was fehlt ihm, Kokain, Ketamin, E, G. Graust ihn die Vorstellung, sich in der Berliner Overdose zu schütteln; dieses dystopische Zuviel, dieses Schlangestehen vor Klos, dreckiger als die Straßen Saigons, Sex, schmuddeliger als im Puff. Ende der Utopie des Zusammen-in-die-Zukunft-Tanzens, die Hoffnung in Vietnam fahren gelassen, auf plastikgesäumten Straßen, hustend in Abgaswolken, erdrückt unter Tonnen Klimbim Made in China.

Er hätte trotzdem tanzen gehen können, wie der Coiffeur vermutlich tanzen war, der ihm mit fast unmerklich zitternder Hand die Schere an die Schläfen hält, auf den Handrücken das Gesicht einer Frau tätowiert, stellenweise schon gelasert, entfernt es, weil er entweder – endlich! – sein Coming Out hatte oder ihm solcherlei Jugendsünden inzwischen peinlich sind.
Der Friseur zieht unflätig Rotz hoch.
(Willkommen in Berlin, es ist Montagmorgen, früher hatten sie montags frei. Lange her.)
Mann, meine Nase, flucht er.
Warst wohl wild aus, hm?
Sie grinsen sich spiegelverkehrt an.

4 Kommentare

  1. Lieber „macht- Lust-auf-Worte-Urs“,

    ja, da ist er wieder, der Begegnungs- und Erlebnisübervolle Urlaubs-Urs, der allmählich (Ich mag das Wort einfach !!!) zum Berliner-Urs mutiert, ganz langsam auf seine so humvorvoll, nachdenklich tiefsinnige Urs-Wort-Kunst-Art, der vielleicht besser mit dem Stäbchen getanzt hätte, denn dann hätte Dracula nicht des nachts den Stuhl ruiniert und den Sex mit der Latte vorher mit einem einzigen Biss beendet …
    Vielleicht, vielleicht aber auch nicht …

    Mia,
    ohne Stäbchen in der Küche, aber mit grünen Restscherben vom nachhaltigen Strohhalm aus Glas … ;-)

    Gefällt 1 Person

    • Liebe Mia
      Ich Vergesslicher! Hätte Dir Stäbchen mitbringen sollen. Vielleicht spielen wir mal Mikado, dann platziere ich eines auf einer Tischplatte, klebe es fest, und wenn es morgens auf dem Boden liegt, auf Deinem, meine ich natürlich, wissen wir: Dracula ist nach Iserlohn gezogen, weil ihm Mias Worte einfach besser schmecken!
      Herzlich, Urs

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  2. Lieber Urs,

    bin gerne eingetaucht in deinen absurd-amüsanten Neuköllner Nach-Urlaubs-Alltag zwischen leidenschaftszerborstenen Bettlatten, herumgeisternden Essstäbchen und einkrachenden Stühlen.

    Vielleicht ist Dracula dein heimlicher Untermieter…

    Ich freue mich schon auf weitere gekrümmte Zeiten von dir.

    Herzliche Grüße
    Ulrike

    Gefällt 1 Person

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