Angesichts der unentwirrbaren Zusammenhanglosigkeit der Welt geht es also darum, ein sicherlich beschränktes, aber in sich ganzes, intaktes, unerbittliches Programm völlig zu Ende zu führen.
Georges Perec, Das Leben Gebrauchsanweisung

50×50, Tag 1
1971 kam Pasolinis Il Decameron in die Kinos. Weil jetzt auch Seuche ist, will ich Geschichten erzählen von dem was war, was ist und was sein könnte. 50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).
Hey, hier kommt Alex
1971
Nicht Alex, Urs, manchmal Ursli, Ürsu, Urslä, Muetter oder Auti („Alte“), werde ich gerufen, seit ich am 25. Januar 1971 von einer in dem Moment Mutter werdenden Frau blutig in die Welt gepresst wurde. Vagina auf – für meine Horrorshow. Ich hörte sie nicht schreien, einen großen Kopf hatte ich aber immer schon. Meine Erinnerung an diese Nacht ist ein Blinzeln in rötliches Licht. Rot stellen wir uns den Geburtskanal wohl alle vor.
Vorhang auf, nicht für A Clockwork Orange, den die Gebärende nie schauen würde, eher Harald and Maude, ziemlich sicher ein Streifen mit Pierre Brice. Winnetou liebte sie (ihr Mädchenzimmer war voller Poster).
Vorhang auf für die Sendung mit der Maus und für das Frauenstimmrecht in der Schweiz.
Vorhang auf für Erich Honecker.
John Lennon singt Imagine. You may say I’m a dreamer but I’m not the only one.
7×7
2020
Die Gegenwart ist derzeit schier unerträglich gedehnt. Verkürzen will ich sie auf Augenblicke und lasse Gegen/wart(en) lieber auf Instagram vorbeiziehen wie auf Grindr den 1km entfernten ff_cumdump.
Bevor ich mich der Zukunft zuwende, halte ich Folgendes fest: Anthroposophen kennen kein Halten mehr, denn sie haben errechnet, dass ich NOCH 49 bin, sie halten Spieglein an die Achse meiner Biografie, sehen sieben Jahrsiebte, raunen 7×7.
Dazu singt Kuno Lauener/Züri West „S’isch Siebä-Siebä“.
Der heutige Siebte ist ein Montag, auch der 25.1.1971 war ein Montag und der 25. Januar in 50 Tagen wird ebenfalls ein Montag sein. Die Quersumme von 25? „Rechne!“, telegrammt Xavier Naidoo, ein Jahrgänger. Der Wahnsinnige predigt den Kanon, also rufe ich andere 1971er*innen zu Hilfe; Lance Armstrong Julian Assange Lukas Bärfuss Bibiane Beglau Moritz Bleibtreu Sofia Coppola Snoop Dogg Paul van Dyk Missy Elliott Charlotte Gainsbourg Karl-Theodor zu Guttenberg Florian Illies Vitali Klitschko Monika Kruse Heike Makatsch Elon Musk Wynona Ryder Mark Wahlberg. Auf Besenstil zu Musik von DJ Ötzi fliegt gegen die Wand: Beatrix von Storch.
Nichts wie weg!
Maison Du Futur
2071
Wir sehen Max nicht, weil er in einem Raum liegt, der dunkler ist als das schwärzeste Schwarz von Anish Kapoor. Wir stellen uns vor, wie Max auf dem Rücken liegend das Bewusstsein erlangt und um sich tastet. Weil er die Arme in alle Richtungen von sich strecken kann, liegt er nicht in einem Sarg. Er dreht sich langsam auf den Bauch und stützt sich auf alle Viere. Kreisum tastet er den kalten Betonboden ab, bis er gegen etwas stößt. Das Ding rasselt metallisch. Vorsichtig streckt Max die Hand aus und spürt eine Tastatur. Eine Schreibmaschine. Papier ist eingespannt. Max bringt die Finger in Grundstellung und tippt: LICHT!
Und es ward Licht.
Auf der Tanzfläche liegen drei weitere Menschen: Eine weiblich anmutende Gestalt mit halbseitig kahlgeschorenem Kopf, teilblondiert, Netzstrümpfe über Slip, BH, sonst nichts. Daneben liegt ein Wesen im Mangastil. Und ein Typ, der Max bekannt vorkommt, Sportshorts, oben ohne, sportlicher Körper. Blinzelnd erheben sich die Vier und gehen aufeinander zu, mustern sich vorsichtig schweigend neugierig wohlgesinnt.
„Alter warst Du das mit dem Licht?“, fragt Netzstrumpf, „was für ein Filmriss, so ausgeknockt war ich noch nie. Ich bin Mia*o, mit Stern, aber wenn ihr öffentlich schreibt, dann bitte mit Doppelpunkt, also Mia:o, damit die Computerstimme eine Pause macht und nicht Mia-Stern-O liest, was für die Zuhörenden total nervig ist, versteht ihr ja, also vermutlich ist euch klar, ich hoffe auch Dir, Alter, dass ich nicht binär bin. Ich bin pansexuell, habe aber mehrheitlich was mit Frauen.“
„Max. Schwuler Cis-Mann. Pronomen: Er. Freut mich. Obwohl, lass das mit dem alt.“
„Ich bin Ben. Du weißt, wie man dieses Ding dort bedient, also bist Du nicht mehr jung. Schau Dich doch mal an.“
Max schaute an seinem Körper herunter und stellt fest, dass auch er nur eine Sporthose trägt, und dass sein Fleisch welker von den Knochen hängt, als er in Erinnerung hatte. Ist er über Nacht vergreist? A propos Nacht. Was für ein Tag ist überhaupt?
„Gib mal dein Handy!“, fordert Max von Ben.
„Akku leer!“
Als das Mangawesen mit synthetischer Stimme verkündet, es sei der 7. Dezember 2071, drehen sich alle erschrocken um. „Ihr habt richtig gehört, 2071. Ich bin Yoki, in Seoul geboren, lebe in Tokyo und Berlin, bin ProfessX für Computerlinguistik und transmediale Sinnerzeugung. Wir sind zulange im Zeithain gewandelt und durch die schallerzeugende FunctionOne in die Zukunft gewummert worden. Wobei wir alle aus anderen Gegenwarten herbeizitiert wurden, dein Präsens, Max, war der 7. Dezember 2020, Du bist Corona entflohen, gratuliere.“
„Sag mal, warum bewegt es seinen Mund nicht, wenn es spricht?“
„Pronomen, Max!“, weist ihn Mia:o zurecht.
„Meine mündliche Sprache würdet ihr nicht verstehen. Glücklicherweise habe ich bei der Entwicklung von iGetit™ daran gedacht, dass auch Hirne von Nichtimplantierten aus den Wellen Sinn erzeugen können. Gerade deine Generation stellte sich total quer, als es um Body-Enhancement ging, gell Max.“
„Whatever. Die Party ist gelaufen. Keine Ahnung, warum wir noch hier sind. Lasst uns gehen.“
Die Drei folgen Max die Treppe hinunter zur Garderobe, die bis auf die Kleider und Taschen der Gruppe leer ist. Sie ziehen sich an und treten hinaus ins gleißende Nichts. Hinter ihnen fällt die Tür ins Schloss. An der Fassade flattert ein Transparent. Darauf steht #bleibt. Das Gebäude löst sich im Weiß auf.

Und so geht’s weiter am Tag 2: White Ocean
Lieber Urs,
was für eine wortgewaltige Zeitreise …
Endlich wieder Urs-lesen am 07.12.2020.
Hast meinen Montag gerettet,
Sabine,
die mit Henni noch in 2020 festsitzt und schreibt.
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Liebe Sabine
Du bist wie der Wind, der durch mein Haar rauscht und meinen Montag erfrischt.
Herzliche Grüße auch an Henni!
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Ursli-Max, mein lieber Alter!
Verstehe ich das richtig, du wirst uns jetzt 50 Tage lang mit Texten beglücken? Wenn ich anschließend für 41 Tage den Countdown übernehme, werde ich dann am Geburtstag der Maus nur 41? Gebongt.
Unentwirrbar die Welt, ja, ich überlege bloß, was das für mich heißen könnte. Sie spiegeln in Fetzen oder aufs Verdaubare runterbrechen. Da habe ich heute dran zu kauen.
LG von Amy, die noch den vierten Leib in 2071 sucht
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Liebe Amy, ich hoffe doch sehr, dass Du mich häufiger beglückst, nicht nur mit deinen warmen Kommentaren, sondern Beiträgen zum Sein.
Liebe Grüße, Urs
PS: Moment, habe ich mich verzählt was Leiber angeht? ;-)
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Mein Fehler, ich hab Mia:o und Yoki in einen Topf geworfen.
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So eine Stabsübergabe die gleichzeitig verjüngend wirkt, finde ich eine gute Idee. Take the stick!
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Liebe Urs,
50 Tage lang was war, was ist, was sein wird und das aus der Seuchengegenwart berichtet… They say, you are a dreamer und deinen Träumen folge ich selbst im Nebel und auf trüben Wolken… das weißt du, das wusstest du und das wirst du wissen, n-est ce pas?
Ich bin gespannt, wie du dich einem halben Jahrhundert Urs/Ursli näherst und folge deinen Worten…. gerne…wie immer….
hedda
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Hedda, liebste Verfolgerin meiner Träume, sei umarmt!
Herzlich, Urs
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