Ich erklärte ihm, eigentlich sollte Gras einem ja das Dichten erleichtern und nicht bloß das Rumalbern fördern. Aber wir konnten nicht aufhören zu lachen.
Patti Smith, Just Kids
50×50, Tag 5
50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).
Was bisher geschah: Auf dem Weg, mich in den WeltWeitenWahnsinn einzuschreiben, krönte ich mich vor Waterloo selbst und beobachtete eine Gruppe beim Glittern, bevor diese im Paris des Jahres 68 träumend einen Stuhlreis bildete.
(Vortag: Coronation / Folgetag: Just Kids)
Exit Through the Gift Shop
1975
1975 eröffnete in Schönbühl das Shoppyland, das größte Einkaufzentrum der Region Bern und das erste Shoppingcenter, das ich betrat. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die bunte Warenwelt reagierte, kann mir aber vorstellen, dass es meinen Eltern schwerlich gelang, mich aus der Spielwarenabteilung zu entfernen, wo ich mich wahrscheinlich mit hochrotem Kopf tobend auf dem Boden wälzte.
In letzter Zeit finde ich mich häufig flanierend in Kaufhäusern wieder, wo ich die wunderlichen Artefakte unserer Zivilisation kontempliere, Etage für Etage, und mich freue, dass ich alles anfassen darf. Die Dessous-Abteilung lasse ich natürlich aus, ich bin doch kein Lüstling! Den Delikatessen hingegen, kann ich nur selten widerstehen.
So wie mich in Museen die Museumscafés und Gift Shops magisch anziehen.
Aber in Museen darf ich derzeit nicht. Keine Kunst betrachten in meist halbleeren Räumen. Aber außer mir und ein paar anderen systemunrelevanten Kulturfuzzis will ja ohnehin niemand hin, es sei denn, da steht Nofretete oder hängt Mona.
Die Menschen wollen shoppen&ficken.
Horses
1975/2020
Dass ich die Zügel nicht verliere, im Galopp durch wilde Zeiten, darüber wacht Patti Smith, die 1975 mit dem Album Horses debütierte. Meine Heroin, deine unbändige und unerschütterliche Lebenslust, deine nie nachlassende naive Neugier, deine rituelle Verehrung des Lebens, der Menschen, der Welt, leite mich.

Ach, Patti, wie könnte ich Dir angemessen huldigen?
Mit Geschichten von guten Menschen wie Dir?
(Warum hört sich das 2020 so kitschig an? Wie distanced bin ich socially schon?)
Von Menschen, die durch kritisches schönes Denken die Welt erkunden und öffnen, die Zeit zeigen/zeugen, das Jetzt ausdehen, das Da-Sein um Vergangenheit und Zukunft erweitert zum Fest erklären?
Indem ich von starken Frauen wie Dir erzähle?
Beispielsweise der mit dem kanariengelben Pulli (sie besteht auf maisfarben), die gestern Abend zu Besuch kam und redete, als ob sie gekommen wäre, um mir Blogstoff zu liefern. Zuerst erzählte sie mir, sie sei wieder einmal plump von ihrem KFZ-Mechaniker angemacht worden.
Auch gestern Abend konnten wir die Frage nicht beantworten, woher viele Männer die unerschütterliche Einbildung haben, dass jedes weibliche Wesen auf Zupfiff sofort die Beine spreizt.
Zum Glück beförderte uns der Rotwein in gelöstere Stimmung. Bis irgendwann der Satz fiel: „Ich hätte nichts gegen einen Schwanz, mit dem ich Männer ficken könnte.“
Meine Nachfrage, ob sie in ihrem Spielzeugkoffer einen Strap-On habe, blieb unverneint. Gegenfragen zu meiner homosexuellen Entwicklung wich ich aus.
Schließlich praktiziere ich hier nicht, ich fiktionalisiere.
Maison Du Futur
2067
Mia:o, Yoki, Ben und Max sitzen erschöpft vom basisdemokratischen Debattieren im Stuhlkreis, noch ist ein Konsens darüber, was zu tun sei, in diesem Hier&Jetzt, in weiter Ferne, als Rainer Langhans den Raum betritt.
„Ist das hier die AG für sexpositive Kommunenbildung?“
Ohne zu Fragen, nimmt er einen Stuhl und drängt sich zwischen Mia:o und Yoki, die er lüstern mustert. „Na, ihr süßen Uschis, ich mach’s auch nonverbal, hohoho.“
An den Kanten des Prismas materialisieren sich Beuys’sche Fettränder.
Der Raum füllt sich mit Vögel– und Affengekreisch. Tropische Luft saugt den Kommunarden ins Vakuum seiner B-Prominenz. Das Letzte, was die Vier von ihm sehen, ist ein Wuschelkopf voller Kakerlaken.
Der freie Stuhl wird sogleich besessen von einer Frau, die Grace Jones’ Tochter sein könnte.
„Woher kommst Du denn?“, entfährt es Max.
„Max! Das fragt man kein:e PoC!“
„Also ich meine natürlich: Wo kommst Du denn plötzlich her?“
Die Angekommene, noch etwas orientierungslos, erklärt, dass sie eben noch an einem Pool in Palm Springs lag, in den sie Abkühlung suchend hinein gehüpft sei. Jetzt säße sie da und werde von einer Runde Nerds PoC ins Gesicht genannt! Dieses gePoCe sei doch wohl der Gipfel, sie sei eine schwarze Frau und stolz darauf, werde aber nur noch pauschalisierend abgekürzt. „Dein süffisantes Grinsen kannst Du dir sparen, Greis! Typen wie dich kenne ich. Für dich bin ich entweder ein lebendes Fettnäpfchen oder ein Formular, auf dem Du beflissen deine politische Korrektheit abhakst. Kurator oder Regisseur, täusche ich mich? Ein paar Farbtupfer hier und dort, weil der Zeitgeist es verlangt? Diversity ist keine United Colors of Benetton-Kampagne, merk Dir das!“
„Ex-Kurator. Und bitte ein bisschen mehr R.E.S.P.E.C.T. einem Menschen fortgeschrittenen Alters gegenüber. A propos Alter. Prisma?“
„96“
„Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass der Autor dieser Zeilen, ja, genau, ich spreche mit Dir, Urs Küenzi, mich zu dem macht, der ich bin und wir uns dringend fragen sollten, ob er das eigentlich darf–“
Max wird übertönt von Appropriation!- und Agency!-Rufen der im Stuhlkreis Sitzenden.
Da muss der Schreibende doch kurz intervenieren: „Ihr Lieben, ich glaube wir sollten in der Handlung fortschreiten, ihr wollt doch nicht ewig debattieren, oder?“
„Was willst Du denn, Schreiberling, uns auf eine Held:innenreise schicken? Du bist doch der, der von neuen Narrativen faselt!“
„Shut up, Bitches!“ Ein atemberaubend gut aussehender Brasilianer mit glänzenden Muskeln und knappem Badehöschen rauscht in die Mitte des Stuhlkreises, schnappt das Prisma und fliegt wie eine Pfeil mit diesem davon.