Ich bin heiß

Serolin (Substanz)
Häufig als Hautcreme dargereichtes Rauschmittel, das von seinen Liebhabern als
Quell der Gnade oder auch Softstoff bezeichnet wird. Erfahrungsberichten zufolge versetzt die Creme in ein frühkindliches Wohlbefinden zurück, einen Zustand herausragender Behaglichkeit, dem man mitunter auch eine amouröse Dimension attestiert. Größter Beliebtheit erfreut sich die Substanz im hedonistisch motivierten Kollektiv CX-2*.
Leif Randt, Planet Magnon*

50×50, Tag 8

50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).

Was bisher geschah: Von Sex Pistols bedroht, tanzte ich einen Boogie und aß Zwetschgenkompott auf Fotzelschnitten, während Paul B. Preciado zur Zukunftsgruppe stieß und sie nach Uranus entführte.
(Vortag: Uranus / Folgetag: Ich bin heiß)

Débardeur

1978
Mit kuhbefelltem Schulranzen und geschwellter Hühnerbrust schritt ich im Frühjahr 1978 in mein erstes Klassenzimmer, im Rütischulhaus (sic!) in Ostermundigen, wo ich alphabetisiert werden würde. Noch war ich weit davon entfernt, auf die Idee zu kommen, dass dieses ABC mich zu einem Menschen normieren will, der sich produktiv in die Gesellschaft einfügen soll. Auf dem schwarzweißen Erstklässerfoto trage einen Débardeur mit V-Ausschnitt über einem wahrscheinlich synthetischen Hemd. Ich erinnere mich, dass die Wolle des Pullunders trotzdem kratzte. Das Porträt zeigt mich, damals noch strohblond, der Haarschnitt sollte wohl die abstehenden Ohren kaschieren, mit Stift und Papier am Pult, bereit mich in die Welt einzuschreiben.

Geilä Siech

2020
Niemals hätte ich ahnen können, dass ich mich in ferner Gegenwart montagmorgens an einen Laptop setzen werde, um Einiges Revue passieren zu lassen, wie zum Beispiel den gestrigen Nachmittag, als ich auf Grindr Nachrichten empfing, womit der Tag eine Wendung nahm, in deren Verlauf ich von einem Millenial „heißer Mann“ geheißen wurde und Körper auf Körper tankte, woran mir seuchenbedingt derzeit schmerzhaft mangelt.

Wie schön es war, dem Berner ohne Übersetzung „Geilä Siech“ ins Ohr zu stöhnen!
Und wie mein Grinsen sich heute morgen verbreiterte, als ich eine Single von Nina Hagen aus dem Jahr 1978 auf den Plattenspieler legte und „Heiß“ hörte.

Hört mal bei der Hagen rein, empfehle ich den jüngeren Zeitgenossinnen Cardi B. und Megan Thee Stallion, von wegen ‚explicit“:

Mir ist heiß!
Ich bin heiß!
Ach, warum sind denn nicht alle so heiß?
Ja, ist es denn ein Wunder?

Ich war zu Hause unter meiner kalten Brause
Und da kam Herr Wichsmann unter meinen Wasserhahn
Ach, war das toll!
Ihm tropfte ab der Schweiß, er sagte:

Mir ist heiß!
Ich bin heiß!
Ach, warum sind denn nicht alle so heiß?
Ja, ist es denn ein Wunder?

Dann kam mein Boyfriend unter unsere kalte Brause
Tag, Herr Wichsmann! Wie man weiss ist es heiß
Ich brauche Wasser, denn ich schwitze auf der Ritze
Er sagte:

Mir ist heiß!
Ich bin heiß!
Ach, warum sind denn nicht alle so heiß?
Ja, ist es denn ein Wunder?

Dann lagen wir auf der Veranda übereinander
Und die Sonne brannte unsere heißen Köpfe durcheinander
Da hob ich ab, da flog ich los, ich sagte:

Mir ist heiß!
Ich bin heiß!
Ach, warum sind denn nicht alle so heiß?
Ja, ist es denn ein Wunder?

Im Jahr 1978 sonnten im Berner Marzilibad Frauen erstmals „oben ohne“.
2020 werden Brüste zensiert, deren Nippel zu sehen sind.
Es muss Synchronizitäten geschuldet sein, dass mir der Besucher gestern das Video Define Beauty: Nipples zeigte, das genial gegen die (algorithmische) Tabuisierung von Brust und Warze antritt.

Maison Du Futur

2064
Weil ich rumgemacht habe, tun es unsere Freunde im Jahr 2064 nicht.
Im Tiefschlaf WA(R)Pen sie gen Uranus.
Paul B. träumt vom „Bio-Schreibzeitalter“ in dem mit 3D-Druckern Geschlechtsorgane hergestellt werden, was im Vergleich zur früheren verstümmelnden Praxis ermöglicht, „eine Vielfalt von Sexualorganen in einen Körper einzupflanzen.“ **
Max performt in seinem Traum die Zunge an Lippen und Nippeln, Eicheln und Rosetten.
Mia:o schlafwandelt durch das Raumschiff und begegnet Sigourney Weaver.
Yoki ist im Schlaf eine Auftragskillerin.
Wanda albträumt von Zeiten, als sie noch mit # auf ihre Gleichberechtigung aufmerksam machen musste.
Ben, Hände auf leise bebender Brust, ist traumlos glücklich.

*Leif Randt: Planet Magnon. S.298. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2017. (Hervorhebungen übernommen.)
**Paul B. Preciado: Ein Apartment auf dem Uranus. Chroniken eines Übergangs. S.269ff. Suhrkamp, Berlin, 2020.

4 Kommentare

  1. Na du Glitterer (immer schön mit Maske, gell?),
    irgendwas mach ich falsch, mir passiert so was Aufregendes nicht und ich schlafe brav alleine. Da ist der tägliche Urs, gestern-heute-morgen, so was wie Ersatzbefriedigung. Bei der ich jede Menge hinzulerne, Wörter (débardeur) und Apps (Grindr) kennenlerne, nur das Geila Siech („geiles Zeug“??) bleibt vorerst im Dunkeln. Bitte nicht auflösen, ich mag das Geheimnis.
    Wobei mich der Titel an eine heiße Nacht mit Gregorius Notorius in Wrozlaw erinnert, lang ist’s her.
    Enjoy! Amy

    Gefällt 1 Person

    • Liebe Amy
      Ich bin 100% sicher, dass Du da einiges mehr zu erzählen weißt, als ich. Grundsätzlich gilt: Auf Tinder scheint unter den Heteros derzeit die Hölle los (sagen mir Heteros) und OK Cupid sei auch nicht schlecht… Und wie immer: Da läuft wesentlich mehr als bei den Schwulen. So mein Eindruck. Glaube mir, solcherlei Aufregendes ist 2020 so selten, dass ich gleich darüber Bloggen musste :-)
      (Endlich passierte mal wieder was! Live!)
      Mit dem Zeug liegst Du ziemlich daneben. Rate weiter.
      Danke Dir, meine zugeneigte Novizin mit den Fäusten hinter den Ohren.
      Notorisch grüßt, Urs

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  2. Ach lieber Urs, Glitter, wohin der Urs gerade schreibt und mehr nicht schreibt einfach heiß … wir, die wir alle auf Abstand anständig im Kopf bleiben, mit unseren versauten Gedanken lesen brav mit und fokussieren wieder diesen Satz: … bereit mich in die Welt einzuschreiben.
    Ein täglicher Lustgewinn allemal,
    liebe Grüße
    Sabine

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    • Liebe Sabine
      Wenn das Denken ans Glittern mich zum Glittern führt und Dich wiederum zum Denken übers Glittern und es Dir bald glittert bis Deine Ohren wackeln, dann bin ich ganz glücklich! Herzlich, Urs

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