Unablässig versucht der moderne Mensch, die Welt in Reichweite zu bringen: Dabei droht sie uns jedoch stumm und fremd zu werden: Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren.
Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit
50×50, Tag 12
50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).
Was bisher geschah: Grace Jones verschönerte den Nanobereich während die Russen verhindern wollten, dass ich als Eisbär auferstehe.
(Vortag: Schulterpolster / Folgetag: Losgelöst)
Distingué
1982
Gestern den 250. Geburtstag von Beethoven einzubloggen habe ich vergessen, obwohl er mir aus dem Feuilleton entgegen wehte. Ebendort las ich eine Rezension des neuaufgelegten Briefwechsels zwischen Theodor W. Adorno und Ernst Krenek, letzterer starb 91jährig 1991 in Palm Springs, kurz wähnte ich mich am Pool eines Mid-Century-Modern Houses Zwölftonmusik komponieren.
(Als hätte ich davon eine Ahnung.)
Klassik war in unserer Familie Richard Clayderman.
Ich kann mich nicht erinnern, als Kind je ein Kunstmuseum betreten zu haben.
Dafür ging ich eines Abends mutterseelenalleine ein Theaterstück des Lehrerkollegiums schauen.
Die Mutter wollte partout nicht aus dem Bett.
Weil ihr Mann wieder mal nicht nach Hause kam.
Sternenhimmel
Vielleicht war dies der Moment, als ich bewusst angefangen habe, auf mein Leben Einfluss zu nehmen. Vielleicht war dieser einsame Gang in die Schulhausaula der Anfang der Fluchtbewegung aus dem Familienmief. Was mir klar wurde, war, dass ich mich mit kultureller Bildung maximal von meiner Herkunft distinguieren kann. Fortan schlug mir bei jeder Gelegenheit entgegen: „Du meinst wohl, Du seist was Besseres!“
Vielleicht. Vor allem aber löste die Vorstellung, so zu werden wie die, Panikattacken aus und triggert noch heute Urängste. (Vgl. Édouard Louis / Didier Eribon)
Was dies alles mit Klassenbewusstsein und Klassendurchlässigkeit zu tun hat, konnte ich noch nicht ahnen, ebenfalls nicht, wie weitreichend die Macht des Bildungsbürgertum ist.
Sonst hätte ich schon den Bürgerschreck gegeben.
Von den Opernhauskrawallen, und dass Züri brännt, hatte ich vernommen.
Wie Hubert Kah griff ich nach dem Sternenhimmel, folgte Falco dem Kommissar und ahnte nicht, dass Boy George vielleicht auf seine Homosexualität anspielte, als er „Do you really want to hurt me“ sang.
A White Boy Chance
2020
In der Gegenwart beobachte ich, am Fenster stehend, einen adretten Herrn, der seit ein paar Tagen vor dem Drogeriemarkt Masken verkauft. Normalerweise steht er vor dem Kleiderramschladen nebenan. Er trägt immer Mantel, früher hätte er als Gigolo gegolten. Er macht seinen Job gut, seine Erscheinung lässt einige Kundinnen anhalten. Läuft nichts, schichtet er die Maskenschachteln um. Gerade steht er mit einem anderen Typen am Stromkasten und trinkt Tee.
Ich frage mich, wie viel uns verbindet.
Ironiefrei bin ich sicher, dass er nach Feierabend mit seiner Tochter, die er Prinzessin nennt, Beethoven hört.
Ich drehe mich vom Fenster weg, weil die Platte einen Sprung hat. „A white boy chance, a white boy chance, a white boy chance“ wiederholt Boy George.
Maison Du Futur
2060
Im Nachtclub Estrel auf dem Nanokreuzschiff zieht Grace Jones Wanda auf die Bühne und legt sie im Tangoschritt über ihr langes, langes Bein. Wanda kreischt. Grace flüstert ihr ins Ohr: „Wer sind Deine Freunde, Schätzchen? Kommt nach der Show Backstage, Codewort Mayday!“
Grace tritt nach Null Zugaben ab.
Wanda führt die Gruppe nach hinten. Der Eingang zum VIP-Bereich wird von zwei Schwarzenegger-Androiden bewacht, die mit föhnartigen Geräten fuchteln. „Misst Fieber, tötet Viren und detektiert Schusswaffen“, erklären sie im Chor.
In Jones’ Garderobe räkelt sich die champagnertrinkende Diva auf einem goldfarbenen Sofa von der Größe eines Wohnzimmers. „Setzt Euch, hier, bitte, bedient Euch, trinkt mit mir, ihr werdet es brauchen.“
„Ihr seht aus, als kämt ihr von der Erde und der Alte aus der Vergangenheit.“ Max kommt nicht dazu, zu protestieren. „Da muss ich hin, unbedingt. Seht nur, was die aus mir gemacht haben! Ein billiger Abklatsch meiner Selbst. Ich muss zurück und verhindern, dass irgendjemand an meine DNA kommt. Es kann nur eine geben!“
„Miss Jones–“, setzt Paul B. an.
„Grace, ich bitte Dich, Béatriz, ’tschuldigung Paul, wie geht’s eigentlich Virginie?“
„Grace, hier geht’s nicht um meine Ex. Nur weil Du entklont werden willst, sollen wir Dir helfen? Wir sind hier im Nanobereich auf der Suche nach der Besten aller Welten, die mit Deinem Auftritt fast vollkommen schien–“
Grace tätschelt Pauls Knie.
„We all need to get down to earth one day, don’t we Paul?“
Tief schaut sie in die Augen der Anwesenden, der vergiftete Champagner tut seine Wirkung, die Gruppe verliert den freien Willen und setzt sich gehorsam aufrecht, ganz Ohr, für das, was Grace anordnen wird.
Sind wir wirklich schon bei Boy George? Den ich damals auch als Mädchen toll fand – alle bunten Vögel. Was für eine Plastikwelt neben Nato-Doppelbeschluss & Co. In eine Schulhausaula hätte ich nicht gehen können, da war keine auf meinem Dorf. Also hörte ich maximal Claydermann mit an, obwohl meine Eltern ja eigentlich Tag und Nacht im Hotel schufteten.
Give my love to Grace, Amy
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Dear Amy
Grace loves you!
Jaja, ich staunte auch, dass Boy George schon die Bühne betreten hat. Ach, im Rückblick geht auch das plötzlich wahnsinnig schnell, was damals unendlich lange dauerte.
Herzlich, Urs
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