Challenge

„Michi, was ist Zukunft?“ Michi sagte, ohne nachzudenken: „Zukunft ist, die Vergangenheit vor vollendete Tatsachen zu stellen.“
Stefanie Sargnagel, Dicht.

50×50, Tag 16

50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).

Was bisher geschah: Ich kitschte im Strandbad Thun Süßes und schaute am Schermen dem Wald beim Sterben zu. In der Zukunft erschienen Nick Cave und Blixa Bargeld und tanzten den Cosmic Dance vor einem Wassermann.
(Vortag: Saures / Folgetag: Lazarus)

Grüne Wolken

1986
Drei Tage nach meinem fünfzehnten Geburtstag flog 1986 die Challenger in die Luft und im April der Block 4 in Tschernobyl. Das erste Unglück zeichnete weiße Wolken an den Himmel.
Die Folgen der nuklearen Katastrophe zeichneten Grafiker der Fernsehstationen als grüne und gelbe, wabernde Nebelschwaden, die über das Alte Europa zogen. Es hieß, wir sollen keine Pilze essen und Schwangere keine frische Milch trinken. Gemüse sei zu waschen. Wir misstrauten Salat.

Verstrahlt fuhr ich im Mai mit meiner Klasse ins Konfirmationslager. Im Tagebuch schwärme ich davon.
Verstrahlt in allen möglichen Situationen war als 15-Jährige Schülerin offenbar auch die 1986 geborene Stefanie Sargnagel, jedenfalls lese ich gerade Seite für Seite in ihren „Aufzeichnungen einer Tagediebin“, wie sie dauerbekifft war. Mäßig interessant. Wiedererkannt habe ich mich allerdings in ihrer Schilderung eines Langstreckenlaufs*, bei dem sie und andere Renitente extra langsam ‚liefen‘. Ich sehe mich am Sporttag in der Sekundarschule Buchholz den 12-Minuten-Lauf auf der Tartanbahn abschleichen, gemeinsam mit allen anderen Gstabis** und den Dicken, „Sport ist Mord“ skandierend, dramatischer hätte es kein Chor einer griechischen Tragödie gespielt.

Anständiger Anteil

In meinen Aufzeichnungen aus dieser Zeit finde ich keinen Eintrag zum Weltgeschehen. Für die Welt hatte ich offensichtlich wenig Zeit, weil das Leben verlangte, dass aus mir „etwas wird“ und erst noch „etwas Anständiges“, ich also einen Beruf wählen müsse, den ich bis zum Lebensende ausüben würde. Was mir zu schaffen machte, war weniger die Qual der Wahl, vielmehr die Erkenntnis, DASS ICH ARBEITEN GEHEN MUSS, mir mein Anteil Welt also nicht in die Hände gelegt werden würde, auf dass ich ihn gestalten möge. Eine Urkränkung, schlimmer als die Verschiebung der Erde aus dem Zentrum des Sonnensystems.

Erst viel später fände ich bei gelehrten Menschen Trost, die wesentlich elaborierter als ich über die Ungleichheit schrieben, Alexis de Tocqueville beispielsweise.
Noch war Aufklärung für mich etwas, das mit Sexualorganen zu tun hatte.
Anzufügen ist hier noch, dass ich mir das Leben mit meinem Weltanteil nicht etwa bescheiden à la Unsere kleine Farm, sondern luxuriös wie das Penthouse von Alexis aus Denver Clan vorstellte.

Weltacker

Kürzlich wollte ich wissen, wie viel Erde mir eigentlich zustünde und ob ich davon überhaupt leben könnte. Und siehe da, selbst im nicht rund ums Jahr vor Fruchtbarkeit strotzenden Umland Berlins, könnte ich auf den 2000 Quadratmetern Land, die mir am Weltacker gehören, genug anbauen, um damit sogar Gäste versorgen zu können.

Als fünfzehnjähriger Spätzünder im Stimmbruch, stand mir der Sinn nicht nach Landwirtschaft. Allerdings machte ich in den Schulferien eine Schnupperlehre in einer Gärtnerei. Auch als Mechaniker und Elektroniker probierte ich mich, wurde aber ausgelacht, weil ich mir nicht merken konnte, wie rum eine Schraube eingeschraubt wird. Kaufmännisch Angestellter bei einer Speditionsfirma war mir zu durchschlagspapierlastig. Ich verwarf wegen des Frühaufstehens eine Bäckerlehre und auch Koch kam nicht Frage. Als Verkäufer den ganzen Tag in einem Laden stehen, passte mir überhaupt nicht.
Was sollte nur aus mir werden? Mich interessierte alles, außer Sport. Reichte es denn nicht, einfach zu sein, verdammt? Karrieregeil war ich (waren wir) damals nicht, die Welt fiel eh in einen nuklearen Winter und der Lockruf der Yuppies war noch nicht von der Wallstreet an die Schulstraße gedrungen.
Als ich in einer Großdruckerei Schriftsetzer schnuppern durfte und aufgrund gestalterischer Begabung die Lehrstelle angeboten bekam, war ich erleichtert. Allerdings sollte diese zuerst der Direktorensohn antreten und ich ein Jahr warten. Zu Hause hieß es: „Auf keinen Fall füttere ich Dich noch ein Jahr durch!“ ***

Maison Du Futur

2056
Angesichts des Wassermanns ruft Max erregt: „Das ist doch der Neptunbrunnen! Wir sind am Alex!“
„Sooo Berlin!“, kreischt Grace Jones, „Ik bin äin Berliner, ik bin äin Berliner.“
„Ein:e, Berliner:in„, mahnt Mia:o.
„Oh whatever. Let’s go to Börghäin! Denkt ihr, ich komme rein mit diesen Klamotten?
„Der Club ist weg, deshalb sind wir doch auf Reise!“, erklärt Ben.
„Dann lasst uns ins Kit Kat gehen“, schlägt Blixa vor, „da war ich schon ewig nicht mehr.“
„Hello“, schnurrt es plötzlich vom Himmel, an dem ein Katzengesicht erscheint, „Willkommen, Reisende aus vergangenen Zeiten, ich bin Kitty AI und governe die Hauptstadt der Germanischen Ökologischen Republik, kurz GÖR. Ich stehe Euch immer zur Verfügung und nehme Euch alle Entscheidungen ab. Bevor ihr zur Spargelernte auf die Felder transportiert werdet, zieht bitte Eure mikroplastikverseuchte Kleidung aus und werft sie in die gelbe Tonne und zieht das dort an. Danke.“ Kitty weist auf eine Kleiderstange an der die neuste Kollektion von Coco Choupette hängt, unübersehbar sind die Referenzen an den HipHop der 1980er mit einem Touch Mao.

Erst jetzt fällt den Frischbekleideten auf, dass Marx und Engels vom Forum verschwunden sind und an ihrer Statt eine stattliche Statue mit Wollpullover steht.
„Joschka Fischer“, nuschelt Blixa.
An der Betonfassade auf der anderen Spreeseite steht nicht „Humboldt Forum“ sondern „Palast der Recyclik“, gerahmt mit grasgrünen Flaggen von denen strahlende Sonnen grinsen.
Das Rote Rathaus ist halbseitig ampelgrün bemalt und am Schaft des Fernsehturms steht: be Berlin, be Kreislauf.

Die Gruppe ist noch am Staunen, als ein Pritschenwagen sich nähert, auf dem Rotwangige fröhlich „Sonne statt Reagan“ skandieren und sie freundlich einladen, hoch zu steigen. Max wird der Vortritt gelassen und will sich von helfenden Händen hochziehen lassen, als er unter einem breitkrempigen Hut ein Gesicht erkennt. Als habe er einem Koyoten in die Augen geblickt, schreckt er zurück und ruft der hageren Gestalt zu: „Ich habe gehofft, dass Du inzwischen auch Dein Fett abgekriegt hast, aber offensichtlich hat die Umschreibung der Kunstgeschichte vor Dir gekuscht!“
Mia:o, Wanda, Yoki und Grace klatschen Beifall, so viel Verve hätten sie dem alten Max nicht zugetraut. Ihre Freude währt nur kurz, weil Kitty-AI Max mit einem Lichtstrahl bannt und grollt: „Alleine der ökologische Fußabdruck gepaart mit dem grünen Engagement entscheidet über den Kanon! Jetzt tretet an Euren Dienst an Gaia!“

* Stefanie Sargnagel: Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin. Rowohlt, Hamburg, 2020. S.47
Eingangszitat: S.60
** Berndeutsch. Gstabi = Ungelenker; gstabig = ungelenk
*** Für nicht in der Schweiz sozialisierte Leser:innen muss angefügt werden, dass es in der Schweiz bis heute üblicher ist, eine Berufslehre zu machen, als ins Gymnasium zu gehen.
2018 haben 21,8% die gymnasiale Matura erreicht und 15,8% die Berufsmaturität (die berufsbegleitend abgeschlossen wird).

4 Kommentare

  1. Lieber Urs,
    heute bin ich wieder am Start und habe mich köstlich amüsiert über die Zwangsreruralisierung der Reisegruppe. Mitgelitten beim Schulsport und der Erkenntnis, dass einem nichts geschenkt wird im Leben. Ich war 1986 auf meiner ersten Demo, zusammen mit 200.000 Menschen im Hunsrück an einer Pershing2-Basis. Zehn Jahre später mit der Uni in der Ukraine und ich hatte das Gefühl, die Gurken schmeckten immer noch radioaktiv.
    Jetzt bin ich gespannt, wer unter der Hutkrempe steckt. LG Amy

    Gefällt 1 Person

    • Liebe Amy
      Der Böse steckt in den Schlagworten :-)
      Ich erinnere mich nur sehr vage an eine Nach-Tschernobyl-Demo in Bern, könnten Fremdbilder sein.
      Du warst in der Ukraine, wow!
      Danke für’s Mitlesen (ich fühlte mich schon ein bisschen verlassen!)
      Herzlich, Urs

      Like

  2. Lieber Urs,
    das Zitat am Anfang lässt mich gerade nicht mehr los:
    „Zukunft ist, die Vergangenheit vor vollendete Tatsachen zu stellen.“

    1986 vergammelte ich in der 12, ein Jahr vor dem Abi und glaubte eine Banklehre sei das Richtige für mich und alle außer mir wüssten, wohin es ging, mit meinem Gerechtsigkeitssinn stand ich ziemlich alleine da …
    Nachdenkliche Grüße
    Sabine.

    Gefällt 1 Person

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..