Aber ich, dem es nicht gelang, einer der Ihren zu werden, ich musste diese Welt in allen Dingen ablehnen.
Édouard Louis, Das Ende von Eddy
50×50, Tag 24
50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).
Was bisher geschah: Gestern kam ich vor lauter Zombietext nur dazu, eine Schreibanregung zu liefern. Zu diesem Zwecke zombiefizierte ich DIE ZEIT.
(Vortag: Zombie / Folgetag: Uferlos)
Die fehlende Null
1994
Kurz bevor ich im Herbst 1994 den ersten Teil der eidgenössischen Maturaprüfung ablegen würde, flatterte der Stipendienbescheid ins Haus, der mich kreideweiß zum Telefonapparat im Flur rennen ließ, wo ich mit zitternden Fingern auf der Scheibe die Nummer der Erziehungsdirektion des Kantons Bern wählte. Ich glaube meine zwei Mitbewohnerinnen standen stützend neben mir.
„Sie, da fehlt doch eine Null?“, stammelte ich angesichts einer nur vierstelligen Zahl in den Hörer.
„Die Zahl ist korrekt.“
„Wie kann denn das sein, womit soll ich jetzt Schulgeld, Miete und Krankenkasse zahlen?“
„Ihr Vater hat letztes Jahr doppelt so viel versteuert, entsprechend geringer fällt ihr Stipendium aus.“
„Ich habe meinen Vater das letzte Mal 1982 gesehen!“
(Auf einem Parkplatz, im Dürrenast in Thun, wo er mich und meine Schwester zum ersten Besuchstag abholen wollte. Ich schrie so lange wie am Spieß, bis der Metzger gegenüber vor den Laden trat und mein Co-Erzeuger schließlich davon abließ, mich in sein Auto zu zwingen.)
„Sie haben Anrecht auf ein staatliches Darlehen von 5000 Franken.“
Danke.
Bügelbrett
Gümligen bei Bern, Blockwohnung.
Er bittet mich herein.
Sie steht am Bügelbrett.
Worum geht’s?
Ich hole gerade die Matura nach. Weil Du viel versteuert hast, kriege ich fürs letzte Schuljahr quasi kein Stipendium mehr.
So so. Und was heißt das jetzt?
Hätte ich gleich nach der Schule das Gymnasium besucht, hättest Du drei Jahre länger Alimente bezahlt. Hätte ich danach studiert noch viel länger. Da ich eine Lehre gemacht habe, musstest Du nicht mehr zahlen. Du hast ungefähr 40’000 Franken gespart. Es ist mir klar, dass mir dieses Geld nicht einfach zusteht. Aber da Du verantwortlich für meine derzeitige Misere bist, über die Vergangenheit sprechen wir gar nicht erst, schlage ich vor, dass wir über ein zinsloses Darlehen sprechen.
Warum musst Du den Gymer machen?
…
Hilfst Du mir oder nicht?
Ich kann Dir kein Geld geben. Aber Du kannst gerne ab und zu zum Znacht kommen, ds’Tesi macht gute belegte Brötchen, gäu Tesi?
Das war das letzte Mal, dass ich mit ihm Kontakt hatte. Zwanzig Jahre später war er tot.
Das schmale Erbe reichte nicht, um die Schulden von damals wettzumachen.
Der Schwulenparagraph
2020
Heute meine ich mich zu erinnern, dass der Vater belegte Brötchen gesagt hat. Damals wurde vorwiegend mittags viel gegessen, abends gab es meistens eine Schnitte.
Ich erinnere mich auch, dass er ds’Tesi gesagt hat, DAS Tesi. Auch heute noch werden Frauen versächlicht, besonders wenn ihre Namen mit i verniedlicht werden, ds’Vreni, ds’Fränzi…
Woran ich mich auch erinnere, ist die Abschaffung des „Schwulenparagraphen“ §175 in Deutschland. In der Bundesrepublik wurden etwa 64’000 Männer wegen homosexuellen Handlungen verurteilt, was damals einer Zerstörung des Lebens gleichkam.
Erst 2017 wurde deren Rehabilitierung und Entschädigung beschlossen.
Für die meisten Opfer kam sie zu spät.
Maison Du Futur
2049/2048
Weil der Schreibende in der gestrigen Gegenwart das Jahr 2049 hat ausfallen lassen und damit seine Chance verpasste, von Ryan Gosling in Blade Runner 2049 zu schwärmen und in Begeisterungsstürme auszubrechen, ob des ersten Teils mit Harrison Ford und dem schlohweißen Rutger Hauer, der einen der hinreissendsten Filmtode stirbt, unter Regen und Geflatter von Tauben spricht der Replikant seine berühmten letzten Worte:
„I’ve seen things you people wouldn’t believe. Attack ships on fire off the shoulder of Orion. I watched C-beams glitter in the dark near the Tannhäuser Gate. All those moments will be lost in time, like tears in rain. Time to die.“
Lasst uns Vangelis hören!
Prismenscan
2048
Yoki weint bitterlich in den Armen von Mia:o, Ben und Max.
„Wir hätten niemals gemerkt, dass Du eine Replikantin bist, ehrlich!“
Doch Yoki brannte eine Sicherung durch und sie drehte sich wie ein Duracell-Häschen im Kreis bis sie mit letzter Kraft rief: „Zum Ausschalten müsst ihr dreimal an meiner linken großen Zehe ziehen. Scannt mich danach mit dem Prisma ab und befolgt seine Anweisungen.“
Vorsichtig befreiten sie Yokis Füßchen vom weißen Buffalo-Plateauschuh und schalteten sie aus. Der Zeh war unerwartet warm.
Der Prismenscan ergab ein zerquetschtes Kabel auf Ischiashöhe. Max fasste sich unweigerlich an den Rücken. Yoki wäre ihm sicher dankbar für die Empathie.
Das Prisma empfahl die sofortige Überbrückung, wofür praktischerweise eine Multitool mit Isolierband in der Nierengegend der Roboterin bereit lagen.
Ben übernahm den Eingriff.
„Und wie schalten wir sie wieder ein?“
„Ihr müsst ihr die Hand an die linke Wange legen.“
Ben tat wie geheißen. Sofort zwinkerte Yoki mit ihren großen Mangaaugen die Gruppe an.
„Bitte, bitte seid mir nicht böse, dass ich nicht die Wahrheit gesagt habe! Menschen wie ihr aus einer anderen Zeit reagieren meistens verstört und wollen mich in die Wange kneifen, was aber sofort einen Abwehrmechanismus auslöst und die Kneifenden elektroschockt. Zwar nicht tödlich, aber dem Herz des Alten möchte ich das nicht–“
„Ich schalte Dich gleich wieder aus, Mädchen!“
Mein Lieber,
fremdgegangen bin ich nicht, ich bin gar nicht gegangen, einen Tag lag ich verkatert auf der Couch, den anderen plante ich mit meinem Neffen-Chef das nächste Anbaujahr (Mangold, Zuckerschoten, Fenchel und Topinambur kommen neu ins Programm).
Dass du 1993 ausgelassen hast, macht gar nix, war ein Sch…jahr, 1994 ging’s aufwärts, neue Liebe, schöne WG-Wohnung, ein HiWi-Job an der Uni. Wieder teilten wir ein Schicksal – meine Eltern verdienten zu viel für Bafög, ich bekam aber selten was ab davon ….
Auf Moselfränkisch sagt man auch „dat Amy“ bzw. „dem Holle Germ seinet“, du hast also nur eine dem Vater untergeordnete Existenz ohne Eigennamen. Der Nachbar hieß „der 175er“. Ich bin selten in der Heimat, Frauen sind aber heute noch sächlich und Schwulenwitze üblich. Ich vermute, 2048 wird das immer noch so sein. In Robotern sehe ich trotzdem nicht die Lösung.
Nichts ist so fantastisch wie wahre Liebe.
Amy
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Liebe Amy
Einmal mehr bin ich verblüfft, wie Du in wenigen Sätzen deine Welt skizzierst und wie viel Parallelen es gibt!
Ist Dein Neffe heiß? Um den Fenchel tät ich mich kümmern!
Herzlich, Urs
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