Mehr Schaum

Leben heißt, von einem Raum zum anderen zu gehen und dabei so weit wie möglich zu versuchen, sich nicht zu stoßen.
Georges Perec, Träume von Räumen

50×50, Tag 26

50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).

Was bisher geschah: Uferlos wurde ich entjungfert, aber noch nicht in den Arsch, während ein Gedankenspiel mich in heterosexuelle Skigebiete führte.
(Vortag: Uferlos / Folgetag: Hoch X)

Bettwurst

1996/2020
Die Vergangenheit ist mir heute einerlei, ich liege im Bett worein ich mich gestern nach einem Schaumbad legte, ganz schön angescheppert vom Sprudel, mit der Absicht, Mitternacht zu verschlafen und es den ganzen Neujahrstag nicht zu verlassen. Gleich werde ich mir ein zweites Frühstück holen (natürlich mit Sekt!) und das Bettezeug zubrösmälä. (1)

Angetreten zu diesem Blogeintrag bin ich mit dem Stichwort „rebel yeah“ und der Absicht, erneut eine Schreibanregung zu teilen. Dazu gesellte sich Georges Perec mit „Träume von Räumen“ und 2046, das Sequel zu „In the Mood for Love“ von Wong Kar-Wai, einer meiner Lieblingsregisseure.

An Liebe denke ich heute erstaunlicherweise nicht. Dafür hole ich jetzt aber sofort ein Gläschen Sekt, damit das auch so bleibt. Den Lachs genieße ich erst später, mit fettigen Fingern tippt es sich nicht so gut. –Moment–

Der Moment hat etwas gedauert, weil ich dieses Foto `grammen musste. Und dann auf Grindr einen Mann angetapst habe…

Georges Perec schreibt in Träume von Räumen:
Ich liebe mein Bett. Ich liebe es, ausgestreckt in meinem Bett zu liegen und gelassen die Decke zu betrachten. Ich würde ihm gern den größten Teil meiner Zeit (und hauptsächlich meiner Vormittage) widmen, wenn mich als dringlicher angesehene Beschäftigungen (es wäre langweilig, eine Liste darüber aufzustellen) nicht so oft daran hinderten.“ (2)

Seele on the rocks

Was war mit „rebel yeah“? In meinen Notizen steht dazu, dass wir uns nicht unterkriegen lassen sollen. Nicht von Corona, nicht vom Alter, nicht von Mikroplastik. Verstanden?
Wir müssen unsere auf Eis gelegten Seelen mit einem warmen Hauch daran erinnern, wie verwegen sie einst waren/sein wollten/sollten.

Die folgende Schreibanregung hat mit utopischem Schreiben zu tun. Ich erlaube mir den Verweis auf einen Workshop, den ich vor ein paar Wochen online durchführte: Utopisches Schreiben im Museum nahm Bezug auf die aktuelle Ausstellung „Eco Fictions“ im Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich.
Angelehnt an den Soziologen Harald Welzer gilt es, unsere Zukunftsfähigkeit wieder zu erlangen; oder nach Rob Hopkins unsere Vorstellungskraft zu stärken, um uns die Zukunft vorstellen zu können in der wir leben wollen.
Im Ausstellungskatalog wird Octavia Butler zitiert: „Science Fiction is simply a way to practice the future together.“ (3) Das Science können wir durch Writing ersetzen.
Schreibend entwickeln wir positive Visionen und stärken damit auch unseren Glauben an die Zukunft. Einer der ausstellenden Künstler, Korakrit Arunanondchai, bringt es in einem Videoporträt so auf den Punkt: „Words create worlds.“

Utopisches Schreiben

Die Schreibanregung ist eine spielerische Möglichkeit, ein utopisches Vokabular zu entwickeln. Gemeinsam taten wir das auch in einer Schreibgruppe an einer Tagung des Segeberger Kreises. (4)
Da ich alleine im Bett liege, mache ich es heute mit mir selbst (höhö).

Ich erfand ein paar Fantasiewörter (nicht lange überlegen, drauflos fantasieren!) und schrieb danach kurze, lexikalische Erläuterungen dazu.
In einer Gruppe wird jeweils ein Begriff erfunden und das Blatt an den/die Nächste weitergereicht, der/die eine Erläuterung schreibt. Der/die schreibt danach einen neuen Begriff darunter und reicht das Blatt weiter usw. bis es einmal die Runde gemacht hat.
Nach Vorlesen der Begriffe werden alle Blätter in die Mitte gelegt, damit der Wortschatz der ganzen Gruppe zur Verfügung steht.

Mein heutiges Ergebnis:
noxeln – Mensch gegen Eichhörnchen. Wer es schafft eine Haselnuss so am Körper zu verstecken, dass die versammelten Eichhörnchen diese nicht finden, hat gewonnen.
Schwarand – Schaumwein zur Vertreibung sauerer Gedanken
Luftbraten – neues thermodynamisches Fluggerät, das zugleich das Klima durch Verbrennen von Hitze abkühlt.
Meerschaumpiraten – 2046 entdeckte Spezies, vermutlich heimisch auf dem Planeten Uranus. Ernährt sich vom Schaum der Tage. Versteckt sich in der Brandung um mit Surfern zu -> schingeln
schingeln – präparatives Liebesgeplänkel, bei dem zuerst elegant von bügelbrettähnlichen Gebilden in möglichst hohe Wellen gesprungen werden muss, um damit -> Meerschaumpiraten anzulocken und unter dem Brett zu küssen. Grundsätzlich gilt: Je höher die Welle, desto mehr Schaum.
parafaxen – im Retrostil zu Hause arbeiten. Falls weder Morsegerät noch Schreibmaschine verfügbar, darf ein Faxgerät mit integriertem Anrufbeantworter* benutzt werden. Umgangssprachlich manchmal auch: so tun als ob.
Regioharp – ein zur Beruhigung aufgebrachter Provinzbewohner:innen zuständiger Harfenist.
Schnawatter – ein für die interstellare Zuckerwatterproduktion verantwortliche Robotoide.
elixophil – Menschen, die gerne mit allerlei Psychedelika experimentieren.
Ondemon – veraltetes Synonym für Präsidenten
Rastunfall – sich im Bett an Champagner verschlucken
helloinisch – in fröhlicher Begrüssungslaune sein

* Es handelt sich nicht um eine Künstliche Intelligenz, sondern um ein Gerät zur Aufzeichnung von eingehenden Anrufen.

Maison Du Futur

2046
Während Max nervös an Yokis Körper herumnoxelt, damit die Türsteher den Schnee nicht finden, trinken Ben und Mia:o Schwarand.
„Hör auf Max, hast Du nicht gehört, was das Prisma verkündet hat?“
Silvester sei seit 2020 verboten. In Erinnerung an die von den Schnawattern getöteten Menschen, die vor 26 Jahren von der Galaxie Sugaroxi die Erde überfielen und sie mit Zuckerwatte einwickelten wie Raupen in Kokons.
„Daraus entschlüpfen doch bunte Schmetterlinge“, wendet der eloxierte Max ein.
„Zum Ondemon!“ flucht Ben, „ihr Generation Xler seid manchmal schwer erträglich.“ Und direkt zu Max: „Alter! Nur weil Du auf Schreibmaschine tippen gelernt hast, musst Du nicht meinen parafaxen zu müssen.“
„Ageism, Ageism!“, antwortet Max und wünscht dem Millenial beim nächsten Bettaufenthalt einen Rastunfall.
Yoki greift, arg schwarandiert ein, lallt helloinisch zu Ben, dass dieser froh sein könne, denn die Generation X habe es 2020 immerhin geschafft, den auf Schlag nicht mehr systemrelevanten Harfenisten neue Aufgaben als Regioharpenisten zu verschaffen. Worauf 2021 endlich der Kanzlerin Leitmotiv „Wir schaffen das“ gesamtgesellschaftlich aufgegangen sei, bevor sie tragisch bei einem Rastunfall verstarb, wohl aus lauter Ungewohnheit, länger als üblich im Bett verweilen zu müssen.
„Dafür haben wir den Luftbraten erfunden und das Klima gerettet!“, sagt Ben.
Max: „Abgekühlt macht Schingeln keinen Spaß.“

Hört! Am Horizont ein Rauschen, ein Gischten, ein Schäumen.
Meerschaumpiraten bereiten sich vor für die Große Schingelei.
Unsere Zukunftsgruppe kippt noch schnell einen Schluck Schwarand, schnappt ein Brett und hüpft hinein, in die Brandung.
„Yoki, bist Du wasserdicht?“

Jetzt aber: Lachs!

(1) Brosmä = Brosamen
(2) Georges Perec: Träume von Räumen. Diaphanes, Zürich/Berlin, 2.Aufl. 2016. S.31. Eingangszitat: S.13. (Die Originalausgabe erschien 1974 bei Galilée, Paris.)
(3) Zitiert nach: T.J. Demos. In: Suad Garayeva-Maleki, Heike Munder (Hg.): Potential Worlds. Planetary Memories & Eco-Fictions. Scheidegger&Spiess, Zürich, 2020. S.77
(4) Norbert Kruse (Hg.): Wahrheit Fake Fiktion & Spiel. Segeberger Briefe No.97. Zeitschrift für
Kreatives Schreiben. Kassel, 2018.

6 Kommentare

  1. Fantastieren

    Begrütt Das neue Jahr im Bett begrüßen mit Lesen, Schreiben und Serien.
    Schreibieren Auf den Zeilen schreibend flanieren.
    Flummeln Einen Flummi immer wieder an die Wand zu werfen und ihn wieder aufschnappen, ohne aus dem Bett zu müssen und den Laptop in Gefahr zu bringen.

    ;-)

    Gefällt 1 Person

  2. Lieber Urs,

    das ist wirklich eine tolle Schreibübung, die viel Inspiration und Freude weckt!
    Mir gefallen besonders die schlingelnden Meerschaumpiraten. :-)

    Herzliche Grüße
    Ulrike

    Gefällt 1 Person

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