Hoch X

„Man habe nie schreiben gewollt. Tanzen, tanzen habe man gewollt.“
X Schneeberger, Neon Pink & Blue

50×50, Tag 27

50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).

Was bisher geschah: Den Neujahrstag verbrachte ich bloggend mit Bubbles im Bett und träumte von Schäumen meiner Seele on the rocks. Um in der Zukunft etwas voranzukommen, gab ich einen Schreibimpuls und erfand utopische Begriffe.
(Vortag: Mehr Schaum / Folgetag: Emaille)

X-beliebig

1997
Damals symbolisierte ein X noch eine Zehn, bezeichnete meine Generation oder bedeutete x-beliebig. So muss auch die documentaX auf mich gewirkt haben. Ich erinnere mich an keine Kunst, nur an Kassel. Beeindruckt hat mich die Nachkriegs-Treppenstraße. Touristiker wird’s freuen. Von Kassel ist es nicht weit nach Berlin, dort war Loveparade. Auch davon bleibt mir nicht vielmehr in Erinnerung als beißender Pissegestank im Tiergarten und mehrheitlich massenbefriedigender choraler Trance à la Marusha. Retrospektiv lässt sich das Mitparadieren trotzdem verklären zu einem großen Moment, als eine Million Menschen mit einem von Musik getragenen Gemeinsamkeitsgefühl zusammen durch die Stadt tanzte.
Eindrücklich war auch die gigantische Baustelle am Potsdamer Platz.
Und der Tresor (das Berghain der 90er).

Xtasy

Wesentlich aufregender als Berlin fand ich in den 90ern London. Vielleicht lag es daran, dass dort eines Nachts im Chilloutbereich eines Clubs ein heißer Typ quer durch den Raum auf mich zukam um mir ins Ohr flüsterte: You’re incredibly sexy.
Ich weiß nicht mehr, welche Haarfarbe ich damals hatte (Mandarin, Zitrone, Giftgrün, Dunkelblau) und was für synthetische Kleidung ich trug, meine bei Patricia Fields in New York ergatterte Hose, die aussah wie doppelte Bonbonverpackung (innen rot, außen transparent), ein bauchfreies Shirt mit Comicaufdruck oder ob ich schon in der Phase weißes Tanktop und Cargohose angelangt war, jedenfalls wurde ich gerade angemacht. WOW. Ich konnte es kaum glauben, weil ich mir im Spiegel meistens auswich.
Natürlich sind Clubs auch Orte der Selbstdarstellung, aber hauptsächlich des Andersseins, des Selbstvergessens, des Aufgehens im Beat, im Rhythmus der Körper. Damals noch in dunklen Kellerräumen, wo Gesichter ein Flackern waren und jedes Lächeln schön. Überhaupt wurde noch vielmehr gegrinst. Aciiiid!!!
Sogar im Trade, im Turnmills; um 5 Uhr morgens ging man rein, am frühen Nachmittag (am selben Tag!) kam man raus, blinzelte die vergessene Stadt im Tageslicht an.
Hypnotisches Stroboskop und Laser zuckten durch den Nebel, über Männer in Metzgerschürzen und nacktem Knackarsch, der Bass hielt zappelnd gefangen, nur wenn die Plastikwasserflasche in der Hand leer war, verließ man Ort und Stelle, viel Trinken, wegen der Extase, dem Schweiß, den triefenden Wänden.

X Schneeberger

2021
In der Gegenwart habe ich die Seite 71 umgeblättert, in Deinem Buch, Kris, ich erwähne das nicht nur wegen meines Jahrgangs, sondern weil ich mich, noch bevor ich gänzlich von Neon, Pink & Blue verzaubert sein werde, vor Deiner Poetik verbeugen möchte. Stell Dir vor, wie ich im Bann Deiner sprachlichen Dichte – jedes Wort, das Du schreibst, ist gemeint, kein Satz ist nur zum Füllen da – die Zuversicht galoppieren sehe. Obwohl Dein Alter Ego sich gerade auffächert in Viele und X dem Tanzen verfällt, von DJ’s schreibt, die ich auch noch erwähnen werde, den Styro2000, Teil des Duos die Galoppierende Zuversicht, aber noch bin ich im Jahr 1997, noch stehe ich im Aera am Parfum nicht an der Garderobe, oder am Tresen, oder lasse mich minimal von Closer Musik reiten. (Selten war elektronische Musik so sexy. Aber davon ein andermal.)

Noch sind wir im Jahr 1997 und damals haben wir uns kennen gelernt. Am Spiert Aviert, dem Forum der Jugend Europas in Maloja, dessen Zeitung ich mitkonzipierte. Die fand ich letzthin wieder, als ein paar Bananenschachteln mit Erinnerungen, aus einem Zürcher Keller nach Berlin nachgezügelt wurden. Ich schrieb über einen Workshop, den Du co-geleitet hattest. Traurig, dass ich auch heute noch, immer und immer wieder über Männergewalt schreiben muss; toxische Männlichkeit, wie wir die Geschwüre des Patriarchats inzwischen nennen.

Deinem Buch, lieber X, werde ich noch mehr Zeilen widmen, versprochen. Ich lese es langsam, erstens, weil das Zergehen Deiner Sprache auf der Zunge, hinunter in den gierigen Magen, bis zum Sugar Rush im Kopf, länger dauert, eben wie ein Täfeli gelutscht werden will. (Zältli würdest Du sagen, Bonbon die nicht mundartigen) Was für ein Aroma!

Damit ich mich nicht nur gebare wie eine, vom Feuilleton verfemte, bloggende Buchschwärmerin (offenbar mehrheitlich Mädchen) ergänze ich, dass mir der durchgehende Konjunktiv den Lesefluss nicht erleichtert, dieser aber ein mutiges und mächtiges Statement ist, schampar gerissen, ein genialer stilistischer Schachzug; Schach, weil Du mit den verwinkelten Erzählzügen meine volle Aufmerksamkeit verlangst und gewinnst, aber besonders, weil Du diesen typisch schweizerischen Konjunktiv zuspitzt.
Denn in der Schweiz (Du weißt, ich übertreibe nicht) gilt jede Äusserung, die nicht in Möglichkeitsform formuliert wird, als Anmaßung, als Behauptung.
Mit dem penetranten ‚man’ ärgerst Du wohl ein paar gendersensitive LeseX, triffst aber genau den Ton des hinterlistigen und hinterhältigen Redens, das sich doppelt distanziert. (Man sagt, die Nachbarin sei…)

Ich danke Dir, Kris, dass in Deinem Buch auf Seite 50 steht:
„Man habe nie schreiben gewollt. Tanzen, tanzen habe man gewollt.“ (1)

Und auf Seite 51, wie für mein nächstes Lebensjahr gedacht:
„Kunst, noch so künstlich, sei auch immer ein Zeichen von Leben, wie wolle man da Kunst und Natur auseinanderhalten, wenn nicht mit Gewalt, naturpur … Sein heisse für ihn schreiben. Und es müsse ja nicht schreiben sein, aber etwas müsse man doch schaffen, um Himmelswillen!“ (sic!) (2)

Weil Dein Roman auch ein Buch übers Schreiben ist, meine Vorschusslorbeeren also schon nach 71 Seiten und weil ich ein Wort klauen muss. Weil es auf den Punkt bringt, was Max auch noch mit 74 drücken wird, wenn er in der Schweiz ist.

Maison Du Futur

2045
Vor Max türmen sich Berge auf, schneebedeckt und sonnenbeschienen, gleißend so weiß, dass heranfliegende Außerirdische bis in die Tiefen des Alls geblendet würden. Ennet einer hellblau glitzernden Seefläche, hinter dem Schloss Schadau, vor das Max als Teenager desöftern nächstens gekotzt hat, Eiger, Mönch, Jungfrau, Blümlisalp und im Vordergrund rechts: Niesen und Stockhorn („Dr Stögu“).
Max erbleicht, weißer als Kokain stammelt er: „Thun“. Yoki versteht das als Aufforderung und reicht Max eine bunte Pille. Max will dankend ablehnen, weil bunte Pillen das Panoramakopfweh (3) doch nur steigern würden.
„Panoramabar? Ich dachte die sei auch zu?“, fragt Ben.
„Man nehme mir endlich diese Berge aus dem Blick! Man bringe mir die Uckermark!“
Yoki hantiert am Prisma. Die Berge werden sommergrünbraun gedimmt, bis auch das letzte Schneefeld geschmolzen ist. Als ein Donnergrollen das inzwischen klimaerwärmte Panorama erschüttert, will Max schreiend davon rennen: „Der Berg kommt, der Berg kommt!“
Mia:o packt ihn am Arm und kneift ihn so fest, dass der blaue Fleck noch tagelang sichtbar sein wird. „AUA!“ Max schreckt in kalten Schweiß gebadet hoch. Yoki, Ben und Mia:o beugen sich über ihn, als säßen sie in der Klobar und hätten ihn aus einem K-Hole geholt.
Haben sie auch. Weil Yoki sich in der Schublade vertan hatte.

I’m a jailbird to your music
A criminal in your prayer
I watch you in your sleep
Even when you’re not there
CocoRosie, Tekno Love Song

X Schneeberger: Neon Pink & Blue. verlag die brotsuppe, Biel/Bienne, 2020
(1) S.50
(2) S.51
(3) S.11

2 Kommentare

  1. Lieber Urs,
    tanzen mit dem Körper, tanzen mit den Worten, tanzen mit der Musik, tanzen mit dem Schatten, tanzen mit dem neuen Jahr und diesem Satz: * …jedes Wort, das Du schreibst, ist gemeint, kein Satz ist nur zum Füllen da …*
    Wunderbar, so mit den Worten zu tanzen,
    atemlose Grüße,
    Sabine.

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