Sugar, Baby!

„Ich weiß nicht mehr die Namen einer Welt, die mich verleugnet Klar lese ich in Muschelschalen, Blättern, Sternen Mein Haß ist sinnlos auf den Wegen des Himmels Es sei denn, er wäre der Raum, der mich wieder Weinend das Meer der Unsterblichkeit queren sieht Abendstern, unter dem Bogen deines goldenen Feuers Weiß ich die Nacht, die nur Nacht ist, nicht mehr“ (sic!)
Michael Roes, Ich weiß nicht mehr die Nacht

50×50, Tag 30

50 Tage lang, vom 7. Dezember 2020 bis ich am 25. Januar 2021 Fünfzig werde, blogge ich täglich zu dem was war, was ist und was sein könnte. Jeden Tag komme ich der Gegenwart ein Jahr näher aus der Vergangenheit (beginnend mit 1971) und der Zukunft (von 2071 zurückzählend).

Was bisher geschah: Ich tippte meine erste sinnvolle SMS, arbeitete bei der Berner Zeitung und staunte über Vorschläge nach denen ich wahrscheinlich suchte. Max lag immer noch auf Ben.
(Vortag: LOL / Folgetag: Odyssee)

Y2K

2000
Die Computer schienen das Jahr 2000 trotz des Milleniumbugs Y2K als solches zu erkennen.
Weder 1900 noch die Apokalypse trafen ein.

Am 1. April 2000 zog ich nach Zürich, um eine Fernsehkarriere zu starten, als Redakteur bei Fohrler Live, einer täglichen Talkshow, ein brandneues Format auf dem neuen und ersten nationalen Privatsender der Schweiz, TV3.
Vor dem WWW wurde das Fernsehen 2.0. Menschen ließen sich in Container sperren und bescherten der Mediengeschichte Höhepunkte bei Nachtsicht unter Bettzeug. Andere wurden prominent, weil sie sich an exotischen Stränden auf den Sack gingen. Kurzum, künftig langweilten sich Hinz und Kunz nicht mehr vor, sondern in der Kiste. Big Brother sei der Untergang des Abendlandes, hieß es. Als nächstes würden Leute wie Gladiator:innen aufeinandergehetzt, siehe Running Man mit Schwarzenegger!

Ich liebte meinen Job, nicht nur, weil wir eine junge, wilde, verwegene Redaktion waren, aus der jahrelange Freundschaften hervorgingen, sondern auch, weil es eine ziemliche Herausforderung war, die konsenssüchtigen Schweizer:innen dazu zu bringen, vor laufender Kamera ihre Meinung zu äußern. Diese nahmen in den Vorbereitungsgesprächen gerne die Faust aus dem Sack, heuchelten aber lieber Toleranz, kaum saßen sie im Scheinwerferlicht. Eine gefürchtete Phrase war: „Es darf ja jeder Denken was er will, aber…“.
Dies schreibend, frage ich mich, wie ich (medien)ethische Bedenken kurz und knapp auf den Punkt bringen könnte. Vielleicht so: Ich will den Wolf im Schaf erkennen.

Klopapier

Ich wohnte damals bei keinem Wolf zur Untermiete, sondern bei einem Zwangsneurotiker.
Der hatte die Angewohnheit, sich im Bad einzuschließen. Manchmal stundenlang waren Schrubbgeräusche zu hören, Bürste auf Haut. Zum Glück hatten wir ein separates WC.
Als ich dort eines Morgens mein Geschäft verrichtet hatte, ging der Griff nach der Klorolle ins Leere. Ich war sicher, dass am Vorabend noch vier Rollen da waren. Überhaupt musste ich dauernd neues Klopapier kaufen, mehr als zwei Männer je brauchen, ging mir auf der Schüssel sitzend durch den Kopf.
Ich stellte den Mitbewohner zur Rede, der am Küchentisch damit beschäftigt war, auf Zeitungspapier ausgelegte schwarze Socken mit einer Fusselbürste zu bearbeiten:
„Wohin ist das ganze Klopapier verschwunden?“
„Ich putze damit.“
„Du hast über Nacht vier Rollen Klopapier verputzt? Spinnst Du?“
„Ich benutze immer mit Klopapier, das ist fabrikneu!“
Kurz danach bin ich umgezogen.

2021
In der eintönigen Gegenwart bin ich zum U-Bahn-Besichtigen verabredet. Berlin ist um eine Attraktion reicher, zwei neue U5-Bahnhöfe wurden eröffnet, von Stararchitekten entworfen, ein Ereignis weltweiter Wichtigkeit. Andere fliegen dafür nach Moskau.
Da wir außer Spazieren nichts unternehmen können, schreiten wir hier in den Untergrund.

Wie oft bei solchen Vorhaben, funken Koinzidenzen dazwischen. So las ich heute in der taz-online, dass in Moskau nun auch Frauen „Metro-Chauffeurin“ sein dürfen. Die „Ressortleiterin Ausland“, Barbara Oertel, berichtet davon unter dem Titel „Schön unterirdisch“. Ich bezweifle, dass sie damit umgangssprachlich meint, es sei ganz schön unterirdisch, dass jetzt auch Frauen am Steuer sitzen. Offensichtlich spielt sie auf das „Schöne Geschlecht“ an. In der taz.! Wie war das mit der Reduktion von Frauen auf Äußerlichkeiten, also Frisuren und Garderobe von Kanzlerinnen?

Zuckerbaby

Eine der ganz großen Schauspielerinnen, Marianne Sägebrecht, verliebt sich in Zuckerbaby in einen U-Bahnchauffeur, einen Schönling, der die Dicke zuerst belächelt, dann aber ihren Verführungskünsten erliegt. Es ist eine Glanzleistung, wie die Sägebrecht sich von depressiver Hässlichkeit zu einer hocherotischen Wuchtbrumme wandelt. Selten wurde und wird die Anmut eines fülligen Körpers so prickelnd dargestellt. Und zwar lange bevor Body Positivity zur politisch korrekten Forderung wurde.

Maison Du Futur

2042
Max liegt am Waldsee immer noch auf Ben. Die letzten zwei Jahre flogen vorbei wie Drohnen an Aussichtspunkten. Ungezählte Sonnenunter- und aufgänge durchliebten sie, lauschten dem Blätterrauschen und dem Plätschern des Bibers, dann und wann fiel Regen, manchmal lagen sie vom Laub bedeckt, ein Reh kam vorbei, ein Fuchs, ein Igel auch. Bienen sorgten für Honig und Eichhörnchen für Nüsse. Vögel brachten frohe Kunde aus fernen Ländern und ein Karpfen erzählte von der DDR.
Es hätte gut und gern ewig so weitergehen können aber langsam wird Max der Nacken steif, da hilft auch keine Massage mehr vom Waschbären.
Langsam wie Ahornsprösslinge richten sich die Liebenden auf und machen sich auf, den See zu umrunden.
Im Schatten einer Blutbuche rasten sie und lauschen den Geschichten der Magierin, die im Baum wohnt.

Das Land weitet sich zur Wüste und Bagdad erscheint am Horizont.
I am calling you, dem Ruf ist nicht zu widerstehen. Und schwupps, sitzen die zwei Männer am Tresen eines Cafés an der Route66 und lassen sich von einer holografierten Sägebrecht Zaubertricks vorführen.

Eingangszitat:
Michael Roes: Ich weiß nicht mehr die Nacht. Matthes & Seitz, Berlin, 2008. S.143

4 Kommentare

  1. Lieber Urs,
    ich freue mich so, dass Max und Ben zusammenkamen und darüber die Zeit Zeit sein ließen! Und das Bagdad Cafe ist der richtige Ort, um sich übers Dasein zu wundern.
    Da vergesse ich sogar diverse neurotische Mitbewohner*innen, über die ich Bücher schreiben könnte.
    In Vorfreude auf Nummer 31, lG, Amy

    Like

  2. Lieber Urs,
    erster Arbeitstag endet gut, mit deinem neuen Textbeitrag und dem Verweis auf den genialen Film mit der genialen Sägebrecht, einer meiner Lieblingsschauspielerinnen !!!
    Mein Lieblingssatz: *Kurzum, künftig langweilten sich Hinz und Kunz nicht mehr vor, sondern in der Kiste.*
    Ganz liebe Grüße,
    Sabine.

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